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Vom Lohn hoher Löhne

Von Ulrike Herrmann

Gastkommentare

Rauf mit den Gehältern müsste die Anti-Krisen-Strategie lauten.


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In den 1920er Jahren verheizten Menschen ihre wertlosen Geldscheine, heute bereitet der Preisverfall Sorgen, denn er schafft Arbeitslose.
© Friedrich-Ebert-Stiftung; Corbis/Lichtenstein

Berlin/Wien. Auch für Ängste gibt es eine Hitliste, und in Österreich steht die Sorge vor der Inflation gefühlt weit oben. Für Deutschland gibt es sogar eine jährliche Erhebung, die die R+V-Versicherung durchführt. Beim deutschen Angst-Barometer dominiert die Inflation einsam an der Spitze. 61 Prozent der Befragten befürchten, dass die Lebenshaltungskosten steigen. Existenzielle Sorgen fallen deutlich dahinter zurück: Nur 55 Prozent der Deutschen denken, dass sie im Alter ein Pflegefall werden könnten, und 49 Prozent ängstigen sich vor schwerer Krankheit.

Dabei gibt es gar keine Geldentwertung, die zu fürchten wäre: 2013 lag die Inflation in Deutschland bei moderaten 1,5 Prozent, und in Österreich waren es etwa 1,9 Prozent. Doch Österreicher und Deutsche kommen offenbar nicht darüber hinweg, dass ihre Urgroßeltern und Großeltern zwei Inflationen erlebt haben: 1923 und 1948 ging in Deutschland jeweils das gesamte Geldvermögen verloren - und in Österreich waren große Teile verschwunden. Seither halten es die meisten Deutschen und Österreicher für denkbar, dass sie hinterrücks erneut von einer Geldentwertung überrascht werden.

Dabei übersehen sie eine Banalität: Beide Inflationen wurden durch Weltkriege ausgelöst, die mit der Druckerpresse finanziert wurden, während gleichzeitig das Güterangebot fiel. Momentan herrscht aber Frieden.

Das Ausland staunt über die "German Angst" vor der Inflation, und leider ist diese Furcht nicht folgenlos. Die Deutschen und Österreicher sind so stark auf die Geldentwertung fixiert, dass sie nicht wahrnehmen, wie gerade das Gegenteil passiert: Es droht eine Deflation, die meist viel gefährlicher ist als eine Inflation. In den Krisenländern fallen die Preise bereits, und Mario Draghi, der Chef der Europäischen Zentralbank (EZB), ist so besorgt, dass er den Leitzins bei niedrigsten 0,25 Prozent belässt.

Konsumenten sind zunächst geneigt, sich über sinkende Preise zu freuen. Doch tatsächlich ist eine Deflation immer bedrohlich, weil fallende Preise schnell auch fallende Gewinne bedeuten. Für viele Unternehmer gibt es keinen Grund, noch zu investieren, wenn sie mit sinkenden Profiten konfrontiert sind. Das Wachstum stockt.

Hyperdeflation führte schon einmal in die Misere

Die Autorin und ihr Buch.
© Westend Verlag

Genau dieser Kreislauf war im 19. Jahrhundert zu beobachten. Wer die Wirkungen einer Deflation studieren will, ist mit den Jahren 1873 bis 1896 bestens bedient, die mit dem Beinamen "lange Deflation" oder "lange Depression" in die Geschichte eingingen. Das Desaster begann mit einer weltweiten Finanzkrise, die mit einem Aktiencrash in Wien startete und die dann Deutschland besonders hart traf, weil nach der Gründung des Deutschen Kaiserreichs 1871 euphorisch spekuliert worden war. Allein zwischen 1871 und 1873 wurden mehr als 900 neue Aktiengesellschaften gegründet, darunter mehr als 100 neue Banken.

Den "Gründerkrach" von 1873 überlebten viele dieser neuen Gesellschaften nicht, der Rest machte horrende Verluste. Wie der berühmte Statistiker Ernst Engel damals berechnete, hatte der Marktwert von 444 Aktiengesellschaften 1872 etwa 4,53 Milliarden Mark betragen - Ende 1874 waren sie nur noch 2,44 Milliarden Mark wert. Knapp die Hälfte des Aktienvermögens war vernichtet.

Damals wusste die Politik noch nicht, wie man Finanzkrisen begegnen muss. Kaiser Wilhelm I. und sein Reichskanzler Bismarck warteten einfach ab und sahen tatenlos zu, wie sich die Deflation in die deutsche Wirtschaft fraß. Die Preise fielen um 38 Prozent; viele Löhne halbierten sich, falls man nicht sowieso arbeitslos wurde. Um dieser Misere zu entkommen, wanderten von 1880 bis 1893 so viele Deutsche aus wie nie zuvor: 1,8 Millionen machten sich auf den Weg nach Amerika. Aus dem Habsburger Reich emigrierten knapp 875.000 Menschen nach Übersee, da es in Österreich-Ungarn kaum besser aussah.

Wie gefährlich eine Deflation ist, lässt sich vor allem an den politischen Folgen erkennen. Ohne hier ins Detail zu gehen: Genau in dieser langen Deflation zwischen 1873 und 1896 verschärften sich der Nationalismus, der Militarismus, der rassistische Antisemitismus und der globale Wettlauf um die Kolonien, die dann die beiden Weltkriege und den Holocaust erst möglich gemacht haben.

Deflation ist schwer zu bekämpfen

Eine Deflation ist auch deshalb tückisch, weil sie kaum zu stoppen ist. Die Zentralbanken sind machtlos, denn sie können die Zinsen nicht unter null senken. Damit bleiben die Kredite zu teuer, obwohl sie scheinbar umsonst sind. Bei sinkenden Preisen kann sich ein Unternehmer ausrechnen, dass seine Umsätze künftig fallen - und er ein Darlehen nicht zurückzahlen kann, wie niedrig der Zins auch liegen mag. Also wird der Firmenchef auf Investitionen verzichten, was die Wirtschaft weiter abwürgt.

Man sollte also alles tun, um eine Deflation zu verhindern - doch ausgerechnet in der Eurokrise wird sie Programm. Die Krisenländer sollen ihre Preise und Löhne senken, damit sie wieder "wettbewerbsfähig" werden. Doch damit begibt sich Europa in die Falle, dass Kredite zu teuer werden und das Wachstum stockt.

Auf den ersten Blick erscheint es logisch, die Löhne und Preise im Süden wieder zu senken, denn bis 2008 sind sie viel zu stark gestiegen. Trotzdem ist dieser Ansatz zu simpel, denn er geht von der Annahme aus, dass sich Vergangenheit und Zukunft symmetrisch zueinander verhalten - und man Fehler korrigieren kann, indem man einfach den Rückwärtsgang einlegt. Doch so funktioniert der Kapitalismus nicht. Entscheidend sind die Erwartungen in der Gegenwart, und sobald Unternehmer fallende Preise erwarten, investieren sie nicht mehr, und damit beginnt der Absturz.

Europa braucht also eine moderate Inflation - aber wo soll sie herkommen, wenn die Zentralbank bereits machtlos ist? Es bleiben vor allem die Deutschen, schon weil sie die größte Nation sind und qua Masse einen enormen Einfluss ausüben. Sie müssen ihre Gehälter deutlich erhöhen. Die deutschen Preise würden steigen, und die Länder des Südens gewännen automatisch an Wettbewerbsfähigkeit, ohne dass sie selbst ihre Löhne absenken müssten.

Höhere Gehälter wären ein Segen für die Deutschen, kein Verlust, denn seit dem Jahr 2000 sind ihre Reallöhne gefallen. Die Bundesbürger könnten mehr konsumieren und importieren, statt Exportüberschüsse anzuhäufen. Gleiches gilt übrigens für die Österreicher. Ihre Reallöhne sind zwar stärker gestiegen als in Deutschland, hängen aber europaweit auch stark zurück.

Es wäre eine Win-win-Situation, wie es auf Neudeutsch heißt. Aber um dies zu begreifen, müssten die Deutschen und Österreicher die Inflation vom Platz eins ihrer Ängste verbannen. Sollten die Deutschen nicht bald umdenken, wird es schrecklich. Eine Deflation sprengt den Euro - und Europa. Das Jahr 1914 sollte eine Mahnung sein. Es ist nicht übertrieben zu behaupten, dass der Erste Weltkrieg indirekt durch die "lange Deflation" ab 1873 ausgelöst wurde.

Ulrike Herrmann, geboren 1964 in Hamburg, ist seit dem Jahr 2000 Wirtschaftskorrespondentin der linksliberalen Berliner Tageszeitung "taz" und Autorin mehrerer sozial- und wirtschaftspolitischer Sachbücher. Zuletzt erschien von ihr "Der Sieg des Kapitals. Wie der Reichtum in die Welt kam: Die Geschichte von Wachstum, Geld und Krisen" im Westend Verlag; Frankfurt am Main; 2013.

In Wien nimmt Herrmann an einer Diskussionsrunde zum Thema "It’s the injustice, stupid" mit Wirtschaftsforscher Stephan Schulmeister, Politologe Ulrich Brand, Silvia Angelo von der AK Wien, Cristina Asensi von Attac Spanien teil.
Veranstalter: Grüne Bildungswerkstatt, AKBeginn: Mittwoch, 22.1., 18 UhrOrt: Plößlgasse 13, 1040 Wien, Lehrsaal B 402