Die Geschichte einer jungen Syrerin steht stellvertretend für unzählige. Melissa Fleming gibt ihrem Schicksal eine Stimme.
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Vier Tage sollte ihr Überlebenskampf dauern. Das Meer verschlang ihren Verlobten und 500 weitere Menschen, die, wie sie, voller Hoffnung gewesen waren. Die Geschichte des syrischen Mädchens Doaa al Zamel steht stellvertretend für unzählige grausame Schicksale. Melissa Fleming vom Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) hat ein Buch darüber geschrieben, Steven Spielberg will es nun verfilmen.
"Doaa - Meine Hoffnung trug mich über das Meer" erzählt davon, wie die junge Syrerin, damals noch ein Teenager, dem Krieg in ihrer Heimat entkommt, um in Ägypten einsehen zu müssen, dass es dort keine Zukunft für sie und ihre Familie gibt. Gemeinsam mit ihrem Verlobten steigt sie in ein Boot nach Europa, das nach einem Angriff durch Unbekannte kentert. Von den rund 500 Menschen an Bord überlebt nicht einmal ein Dutzend, darunter Doaa und eines der beiden Babys, die Ertrinkende ihr während der Tage und Nächte auf offener See anvertraut haben. In Griechenland wurde Doaa nach ihrer Rettung als Heldin gefeiert. Heute lebt sie mit ihrer Familie in Schweden.
"Wiener Zeitung": Wie hat Doaa überlebt? Andere, darunter ihr Verlobter, waren körperlich viel stärker als sie - und die meisten gaben auf.
Melissa Fleming: Doaa hat eine innere Stärke, die die wenigsten haben, von der sie selbst nichts wusste. Sie hat einen starken Charakter, sie ist stur, und sie hatte ihre Religion. Wäre sie nicht für die Babys verantwortlich gewesen, hätte das ganz anders für sie ausgehen können.
Doaa gibt den Zahlen ein Gesicht. Können reale Geschichten wie diese etwas ändern?
Wenn Menschen mit Statistiken konfrontiert werden, fühlen sie nichts, die Empathie schwindet. Ich bin überzeugt, dass man, um mit Flüchtlingen und anderen Notleidenden mitfühlen zu können, echte Geschichten erzählen muss.
Können Bilder wirklich etwas bewegen? Hat etwa Alan Kurdi, der tote Bub am Mittelmeerstrand, letztendlich etwas bewirkt?
Kurzfristig schon. Manche Länder haben ihre Politik für kurze Zeit geändert. Es gab auch einen Anstieg der Spenden für unser Programm. Jeder interessierte sich für den kleinen Buben, jeder wollte seine Geschichte kennen. Leider gibt es nicht viele solche Momente. Wie viele Kinder sind seither im Mittelmeer ertrunken? Tausende. Wir kennen ihre Namen nicht, ihre Geschichte. Niemand interessiert sich dafür.
Mit Spielberg interessiert sich nun jemand für Doaas Geschichte, der mit "Schindlers Liste" vielen Menschen etwas über den Holocaust gelehrt hat. Kann ihm das auch mit der Flüchtlingskrise gelingen?
Ja. Auch das Buch hat viel bewegt. Jugendliche lesen es in der Schule, vor allem in den USA. Junge Menschen sind sehr bewegt von Doaas Geschichte, obwohl sie nie einen Syrer kennengelernt haben. Das Buch ist der Beweis, dass man den 65 Millionen Geflüchteten eine Stimme geben kann - das ist meine Aufgabe als Kommunikationschefin des UNHCR. Wirft man nur mit Statistiken um sich, dann füttert man die Nigel Farages dieser Welt mit Zahlen, die sie brauchen, um Angst zu verbreiten. Der Film hat das Potenzial, noch mehr Menschen zu erreichen. Das könnten Bilder sein, die man nicht mehr aus dem Kopf bekommt.
Am Ende des Buches stellen Sie eine Menge politische Fragen, darunter, was wäre, wenn es legale Wege nach Europa gebe und wieso die Nachbarstaaten im Stich gelassen werden. Haben Sie Antworten darauf?
Das sind für den UNHCR fundamentale Fragen. Jedes Jahr verkünden wir Rekordzahlen, immer mehr Menschen müssen fliehen. Es gibt keine Lösung für die Kriege dieser Welt, so viele Flüchtlinge können nicht zurück und neue Konflikte kommen hinzu. Seit 2015 sehen wir, wie die Politik im reicheren Teil der Welt härter wird. Früher haben die USA 75.000 bis 100.000 Menschen pro Jahr aufgenommen. Unter Präsident Trump sind es nur mehr 25.000. Wir bitten die reichen Länder immer wieder, die Verantwortung zu teilen. Die Menschen erkennen, dass sie in den Flüchtlingslagern der Nachbarländer keine Zukunft haben. Nur die Hälfte der geflohenen Kinder besuchen eine Schule. Es wundert nicht, dass Eltern das Risiko einer Bootsfahrt nach Europa auf sich nehmen. Der Schutz von Geflohenen ist eine globale Verantwortung, es liegt nicht nur an den wenigen Nachbarstaaten. Geflüchteten sollte nicht lediglich das Überleben ermöglicht werden. Sie sollen ihre Traumata verarbeiten, zur Schule zu gehen und später einmal in ihre Länder zurückkehren können.
Macht das weltweite Erstarken rechter Kräfte - auch in Europa - einen Unterschied für Ihre Arbeit?
Absolut. Die Sprache der Politik wurde gegenüber unseren Mitmenschen hasserfüllt und hässlich. Das beeinflusst die Wähler und kann für andere ein Freischein sein, zu diskriminieren und Ängste zu schüren.
Heuer sind bereits rund 200 Menschen im Mittelmeer ertrunken, allein am Wochenende waren es 170. Es gibt nur noch ein NGO-Boot, das Geflüchtete aus Seenot rettet. Was hat sich seit der Flüchtlingskrise von 2015 verändert?
Die NGO-Boote zur Rettung von Flüchtlingen wurden so gut wie abgeschafft von europäischen Regierungen. Die Folge ist, dass mehr Menschen ertrinken. Es machen sich zwar weniger Menschen auf den Weg, aber von diesen sterben mehr. Die Rettung wird an die libysche Küstenwache delegiert - und die bringt die Menschen zurück nach Libyen, wo sie unter schrecklichen Bedingungen eingesperrt werden. Der UNHCR ruft dazu auf, einen einheitlichen Mechanismus zur Landung einzuführen, damit man nicht bei jedem einzelnen Boot die Frage stellen muss, wer die Menschen aufnimmt. Vor kurzem harrte ein Boot mit etlichen Kindern mehr als fünf Tage vor der Küste Maltas aus, weil kein Land das Boot anlegen lassen wollte. Das von Fall zu Fall zu entscheiden kann nicht die Lösung sein.
Kanzler Sebastian Kurz hat einmal gesagt, es werde nicht ohne hässliche Bilder gehen, anders würden die Zahlen der Fliehenden über das Mittelmeer nicht zurückgehen. Hässliche Bilder gibt es zur Genüge. Hatte Kurz recht, waren es Politiker wie er, die dafür gesorgt haben, dass sich weniger Menschen auf den Weg machen?
Das glaube ich nicht. Während der sogenannten Flüchtlingskrise kamen die Menschen vor allem in einige wenige EU-Länder, darunter Österreich. Das war dramatisch, Europa war nicht bereit dafür. Aber die Menschen hatten das Gefühl, willkommen zu sein. Das ist vorbei und die Menschen brauchen keine hässlichen Bilder, um das zu verstehen. Viele jener, die versuchen, über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen, sitzen in Libyen fest. Sie sehen die schlimmsten Gefängnisse, die man sich vorstellen kann. Es gibt niemanden, der nicht alles tun würde, um da wieder rauszukommen, selbst, wenn das heißt, sein Leben auf einem Schlauchboot zu riskieren. Aber es ist schwer, da rauszukommen. Deshalb gehen die Zahlen zurück.
Was können kleine Länder wie Österreich tun?
Wir bitten kleine Länder wie Österreich, die die finanziellen Mittel haben, zu spenden. Je besser die Förderungen, desto mehr können wir für die Menschen tun, die Zuflucht in ihren Nachbarländern gefunden haben.
Tut Österreich genug?
Wir bitten Österreich immer wieder darum, mehr zu bezahlen. Es gehört nicht zu den großzügigen Geldgebern.
Melissa Fleming ist die leitende Pressesprecherin des Hochkommissariats der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR) in Genf. Die US-Amerikanerin gilt als wichtigste Expertin in Flüchtlingsfragen. Die studierte Germanistin und Journalistin lebt in Genf und Wien.