Das Siechtum der sozialdemokratischen Parteien in Europa liegt auch darin begründet, dass sie keine valide Definition von Arbeit im digitalen Kapitalismus entwickelt haben.
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Die sozialdemokratischen Parteien Europas liegen am Boden. In Frankreich, wo die Linke schon seit Jahren zersplittert ist, kam
der Kandidat des Parti Socialiste, Benoît Hamon, bei der Präsidentschaftswahl 2017 auf kümmerliche 6,4 Prozent der Stimmen. Bei den italienischen Parlamentswahlen erzielte der Partito Democra-tico von Matteo Renzi 18,9 Prozent und landete nur knapp vor der Lega Nord. Und in Deutschland lag die SPD in Umfragen zeitweise hinter der AfD.
Das liegt auch darin begründet, dass neue materielle wie kulturell-identitäre Gräben (Globalisierung) die Parteienlandschaft durchziehen und die Arbeiterschaft, die traditionelle Klientel sozialdemokratischer Parteien, mehrheitlich rechte statt linke Parteien wählt (etwa AfD, FPÖ oder Front National), die auf die globalisierte Moderne mit einem nationalen Programm antworten.
Doch die allgemeine Schwäche der Sozialdemokraten, die man aus den Wahlergebnissen ablesen kann, hat noch eine andere, viel zentralere Ursache: Die Parteien haben es nicht geschafft, den Begriff der Arbeit inhaltlich zu schärfen und programmatisch vom Industriezeitalter in das Digitalzeitalter zu überführen.
Mechanischer Begriff
Die Vordenker von SPÖ, SPD oder PS sind einem tradierten, mechanischen Begriff von Arbeit aus der fordistischen Ära verhaftet. Zwar wurden die Parteiprogramme auf prekär Beschäftigte wie Crowdworker oder Solo-Selbständige adaptiert, doch die sozialdemokratischen Parteien haben - wie im Übrigen auch die Gewerkschaften - noch immer das Bild des Arbeiters am Fabrikband im Kopf, der tagsüber malocht und dessen materielle Besserstellung (Arbeitszeitreduzierung, Lohnerhöhung) zum Gegenstand der nächsten Tarifverhandlungen gemacht werden müsse.
Im Koalitionsvertrag der deutschen Bundesregierung heißt es etwa unter der Überschrift "Gute Arbeit": "Das Zeitalter der Digitalisierung wollen wir als Chance für mehr und bessere Arbeit nutzen. Wir wollen deshalb neue Geschäftsmodelle fördern und gleichzeitig die Tarifbindung stärken." Als wäre das Modell der Sozialpartnerschaft mit der Sharing Economy kompatibel. Das disruptive Moment der Plattformökonomie ist ja, dass sie das kameralistische System der Sozialen Marktwirtschaft aufbricht, und Plattformen à la Amazon wie bei der Kollektivierung von landwirtschaftlichen Produktionsgemeinschaften ganze Branchen (etwa den Buchhandel) in sich einverleiben und selbst den Markt bilden.
In Amazons Logistikzentren arbeiten inzwischen fast so viele Roboter wie Menschen (rund 120.000). Und mit jedem Roboter werden die Picker, die wegen ihrer mechanistischen Arbeitsweise auch "Amabots" genannt werden, überflüssiger. Das Verhältnis Mensch-Maschine wird kippen. Provokant gefragt: Wer braucht noch Anwälte für Arbeit, wenn es kaum noch Arbeit gibt? Die Parteien haben sich der sozialen Frage im Digitalzeitalter beharrlich verweigert: Was bedeutet Arbeit 4.0?
Ist es schon Arbeit, wenn man sich durch Formularfelder und AGBs wühlt und sein Online-Ticket selbst ausdruckt, anstatt beim (wegrationalisierten) Schalterbeamten seine Fahrkarte zu kaufen? Ist es noch Freizeit, wenn man stundenlang am Tag auf Facebook Bilder teilt und mit Freunden chattet? Oder schon Arbeit, weil man mit der Generierung bisher nicht eigentumsfähiger Daten zur gigantischen Marktkapitalisierung von Facebook, Google und Co. beiträgt, ohne davon zu profitieren? Sind die Amabots, Crowdworker und Uber-Fahrer nicht die postindustrielle Reservearmee, eine per Mausklick verfügbare und rekrutierbare Masse, die man unter Ausbeutung ihrer Datenarbeit nach dem Prinzip hire and fire einstellen kann?
Der zentrale Unterschied zwischen Manchester-Kapitalismus und digitalem Kapitalismus ist, dass Kapitalisten heute nicht mehr nur mechanische Arbeit, sondern auch kognitives bzw. körperliches Kapital abschöpfen: Gedanken, Emotionen, physiologische Parameter wie Puls und Schlaf. Geteilte Erinnerungen auf Facebook sind im Grunde bloß Rohdaten für eine riesige Werbemaschinerie. Das Proletariat ist ein Kognitariat, sagt der italienische Philosoph Franco Berardi - man wird für geistige Arbeit nicht einmal mehr entlohnt. Die Arbeit ist zwar mental, doch die Kognitarier arbeiten auch körperlich - die Augen werden von der Bildschirmarbeit müde, den Klickworkern schmerzt das Handgelenk, ihre Nerven werden von den Sirenen der Aufmerksamkeitsökonomie aufs Ärgste strapaziert.
Die marxistische Lehre stellt darauf ab, das von der Lohnarbeit versklavte Subjekt zu befreien. Mit der Automatisierung scheint die Utopie einer Post-Arbeits-Gesellschaft auf, in der Roboter für uns arbeiten und unseren Wohlstand erwirtschaften. Der Mensch könnte es sich in der sozialen Hängematte bequem machen. Karl Marx träumte von einer Gesellschaftsordnung, die es jedem möglich mache, "heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden".
Arbeitsame Freizeit
Doch das Problem ist nicht, die Menschen von der Fron der Arbeit zu befreien. Die Arbeitsbedingungen sind humaner geworden, die Wochenarbeitszeit ist in fast allen Industrienationen (mit Ausnahme Japans) gesunken. Die deutsche IG Metall fordert eine 28-Stunden-Woche, die Genera-
tion Y fragt im Vorstellungsgespräch nach der Work-Life-Balance und dem Sabbatjahr; die Arbeit zu Hause erledigen Haushaltsroboter. Das Problem scheint eher zu sein, wie man Menschen von ihrer arbeitsamen Freizeit befreit.
Es geht darum, wem unsere Zeitkonten zur Verfügung stehen. Google? Facebook? Dem Arbeitgeber? Der Familie? In der Aufmerksamkeitsökonomie konkurriert jeder gegen jeden: Die Spiele-App mit der Schwiegertochter, Whats- app mit dem Projektmanager. Franco Berardi spricht von "Info-Arbeit": Das Kapital rekrutiere nicht mehr Personal, sondern kaufe Zeitpakete. Der Produk-
tionsprozess werde semiotisch, und dieses Zeichenmaterial (etwa Emojis) werde durch "informatische Prozeduren" neu kombiniert und in den digitalen Verwertungskreislauf eingespeist. Das Fabrikband kann man einfach verlassen. Von kognitiver Arbeit kann man sich dagegen nicht so einfach trennen, weil die Maschine im Gehirn unaufhaltsam weiter rattert. Wo Arbeit entgrenzt wird, sind auch ihrer Kapitalisierung keine Grenzen gesetzt.
Der Technikphilosoph Bernard Stiegler schreibt in seinem Werk "La Société automatique : 1. L’avenir du travail": "Wenn volle und generalisierte Automatisierung Zeit im Allgemeinen befreien soll, wie vermeiden wir dann, dass diese befreite und daher verfügbare Zeit eine neue verfügbare Gehirnzeit wird, nicht mehr televisuell, sondern googlistisch, amazonisch oder facebookianisch?"
Das von der Arbeitszeit befreite Subjekt, so die Dialektik, werde nun von den Datenkraken versklavt. Stiegler spricht von der "Proletarisierung der Produzenten", sprich der Nutzer, die zwar Inhalte konsumieren, aber auch Daten produzieren und insofern Produzenten sind. Die mechanisch gedachte Arbeiter-Parole "Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will" läuft leer, weil die Datenmaschinerie permanent weiterläuft.
Selbst wenn Uber-Fahrer streiken, werten Algorithmen in irgendwelchen Serverfarmen Fahrdaten aus und schöpfen daraus Mehrwert. Gewiss, es erscheint zirkelschlüssig, den Menschen von seiner Freizeit zu befreien, doch das Problem, dass Arbeit im Gewand der Freizeit daherkommt und der Körper zur verlängerten Werkbank geworden ist, aus dem Tech-Konzerne Daten schürfen, hat die europäische Linke bisher kaum adressiert. Was also ist zu tun?
Erosion der Privatsphäre
Ein kultureller Chorgesang à la "Crowdworker aller Welt, vereinigt euch" erschiene zu simpel und würde alte kommunistische Klamotten reanimieren. Es braucht nicht unbedingt eine neue Mehrwerttheorie, aber eine Debatte darüber, was uns Privatsphäre wert ist und ob sie vielleicht mehr ist als eine protektionistische Barriere, die der Kapitalisierung von Körperfunktionen im Weg steht.
Die Erosion der Privatsphäre ist schließlich eine direkte Folge der Atomisierung der Gesellschaft, deren Individuen den Fliehkräften der Marktwirtschaft schonungslos ausgesetzt sind. Daher führte auch die Entlohnung von Daten, wie sie etwa der US-amerikanische Informatiker Jaron Lanier vorschlägt, in die Irre, weil sie neue Abhängigkeiten und prekäre Beschäftigungen erzeugt.
So paradox es klingt: Das radikal befreite Subjekt ist unfrei, weil es die Fabrikation von Daten in einer totalüberwachten Gesellschaft nicht verhindern kann. Die Linke muss das Thema Arbeit aktualisieren und deren neue Erscheinungsformen politikfähig machen. Sonst droht sie vom Datenkapitalismus selbst disruptiert zu werden.
Adrian Lobe, geboren 1988 in Stuttgart, studierte Politik- und Rechtswissenschaft und schreibt als freier Journalist für diverse Medien im deutschsprachigen Raum.