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Vom Rand in die Mitte

Von Bernd Vasari

Politik
Im Sitzungssaal des Wiener Gemeinderats wurden die Zertifikate verliehen.
© Alexandra Kromus

Kinder verlieren oft Respekt vor den Müttern, die sie begleiten müssen.


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Wien. "Menschen in der neuen Heimat fühlen sich einsam und allein gelassen", sagt Gül Ekici, die von der Türkei nach Österreich auswanderte. Die Familienmutter arbeitet jeden Tag in der Bäckerei ihres Ehemannes am Brunnenmarkt. Seit vier Jahren ist sie auch professionelle "Nachbarin." Sie hilft Frauen aus ihrer Community, sich selbst zu helfen.

Das Projekt "Nachbarinnen" versucht mit eigens ausgebildeten sozialen Assistentinnen entgegenzusteuern. Die ersten 16 Assistentinnen erhielten am Montag nach einer fünfmonatigen Ausbildung ihre Zertifikate im Sitzungssaal des Wiener Gemeinderats. Integrationsstadträtin Sandra Frauenberger (SPÖ) überreichte die Zertifikate. "Wir wollen das Vertrauen der Frauen gewinnen, die zurückgezogen leben", sagt eine der beiden Initiatorinnen, Christine Scholten. Sie sollen vom Rand in die Mitte der Gesellschaft geholt werden und mithilfe des Projekts, "Dinge erproben, die sie sich vorher selbst nicht vorstellen konnten".

Angesprochen werden die Frauen von den sozialen Assistentinnen, den Nachbarinnen, die selber aus der Community kommen, die Kultur kennen und die gleiche Sprache sprechen. In gewohnten Umgebungen, wie etwa vor Schulen, im Park oder in der Moschee treten sie an Mütter aus ihrer eigenen Kultur heran und geben weiter, was sie selbst einmal gelernt und erlebt haben. "Das Problem ist oftmals das fehlende Selbstbewusstsein der Frauen", sagt Asha Osman aus Mogadischu, Somalia. "Viele Mütter sind sogar abhängig von ihren Kindern, weil diese besser Deutsch sprechen." Dadurch verlieren die Kinder den Respekt vor ihren eigenen Müttern. Vieler dieser Frauen trauen sich auch nicht mehr außer Haus.

Dann kommen die Nachbarinnen ins Spiel, sagt Osman. Bei einer somalischen Hochzeit hat sie eine Frau kennengelernt, die Alleinerzieherin von fünf Kindern ist und ohne Arbeit in desaströsen Wohnverhältnissen lebt. "Durch die gleiche Sprache und durch die gleiche Kultur ist es für mich leichter an sie heranzukommen", sagt Osman. Sie leistet Hilfe beim Ausfüllen von Formularen, begleitet sie zum Arzt oder motiviert sie, sich beim AMS zu melden.

Asha Osman kam vor vier Jahren nach Österreich. Sie musste vor der radikalislamistischen Miliz Al-Shabaab fliehen. Nach einem abgeschlossenen Masterstudium in "Business Management" arbeitete Osman 15 Jahre lang für die UNO in Somalia und Kenia. "Eigentlich habe ich heute denselben Job wie damals", sagt sie. So wie heute half sie damals Familien, einen Weg aus der Armut zu finden, ging mit ihnen zu Behörden und meldete die Kinder an der Schule an.

U-Bahn fahren als Hürde

"Die sprachliche Barriere ist am Anfang das Schwierigste. Da wird sogar das U-Bahnfahren zum Problem", erzählt Kawther Abo-El-Eas. Die Ägypterin kam vor 12 Jahren nach Österreich. Durch die fremde Sprache und fremde Mentalität fühlte sie sich am Anfang isoliert. Sie hat daher von Anfang an versucht, Deutsch zu lernen. "Ich sage den Frauen immer: Du musst die Sprache verstehen." Es braucht aber auch immer jemanden, der einen motiviert. Sonst würde wenig weitergehen. Bei ihr war es der Ehemann, der sie motiviert hat, die Sprache zu erlernen. Frauen, die dem Mann die ganze Verantwortung übertragen, kritisiert sie. Als Frau müsse man auch von selbst auf die Beine kommen.

Zugang zu anderen Frauen findet sie über das Thema Kinder oder auch über das Essen: "In unserer Kultur ist es üblich, anderen Menschen Essen anzubieten, auch wenn es Fremde sind. Hier profitiere ich von meiner Kultur", sagt sie. Abo-El-Eas erzählt dann über ihre eigenen Erfahrungen und von dem Projekt. "Ich mache den Frauen auch klar: Du bist eine Botschafterin deiner Religion und deiner Kultur." Man müsse daher die guten Seiten der Kultur und der Tradition zeigen, denn diese werden immer und überall anerkannt.

Bevor Kawther Abo-El-Eas nach Wien kam, lebte sie in Ägypten, etwa eine Stunde von Kairo entfernt. Sie hat französische Literatur studiert und war Französisch-Lehrerin und Journalistin. Vor 12 Jahren übersiedelte sie zu ihrem Mann nach Wien. Von Assimilation hält sie wenig, stattdessen meint Abo-El-Eas: "Wir müssen uns zwischen beiden Kulturen zurechtfinden. Wir könnten einen dritten Raum aufmachen, auch für unsere Kinder, die zwischen den ersten beiden Räumen aufwachsen und dadurch oft verunsichert werden."

Hilflos und kein Deutsch

Die Integrationsdebatte sei ihr zu einseitig. Für Integration seien schließlich beide Seiten verantwortlich, Migranten und Nicht-Migranten. Warum aber in Österreich sehr wenig auf Migranten zurückgegriffen wird, verstehe sie nicht. Dabei haben viele Frauen eine gute Ausbildung und sprechen viele Sprachen, sagt sie.

Christine Scholten gründete das Projekt "Nachbarinnen" gemeinsam mit Renate Schnee. Scholten, Ärztin für interne Medizin und Kardiologie, hat in ihrer Praxis oft mitbekommen, dass Migrantinnen oftmals hilflos sind und kein Wort Deutsch sprechen. Vor vier Jahren startete sie daher das Pilotprojekt mit Gül Ekici. "Die Idee der Nachbarschaft ist in unserer Kultur leider etwas verkommen. Dabei kann man in der Nachbarschaft sehr viel voneinander lernen."

Das Projekt habe sich über Mundpropaganda schnell herumgesprochen. Ab September können die 16 ausgebildeten Nachbarinnen ihre Arbeit aufnehmen. Zehn Frauen werden dann auch für 20 Stunden angestellt. "Sie bekommen zum ersten Mal eine Anstellung für Dinge, die sie schon jahrelang machen: Integrationsarbeit für sie Stadt", sagt Scholten. Finanziert wird die Privatinitiative zu einem Drittel aus öffentlichen Geldern, den Rest übernehmen private Spender. Ziel ist, dass die Frauen eines Tages selbständig den Gang zu den Behörden wagen.