Aus Wien 1938 vertrieben, in New York zueinander gefunden: Besuch bei der 96-jährigen Lilly Phillips, die mit Eric Peters Comics zum Überleben zeichnete.
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Eine Kunstromanze fern der alten Heimat, von nur zehn Jahren Dauer: 1943 heiratet in New York der Cartoonist Eric Peters, 44, eine halb so alte Mode- und Comic-Zeichnerin. Lilly Renée Wilheim stammte wie ihr Mann aus Wien. Beide waren am gleichen Tag geboren, einem 12. Mai. Beide waren nach dem "Anschluss" geflohen. Erich, der damals noch Gold hieß, kam über die Schweiz, nach einem Zwischenstopp im Gefängnis von Feldkirch, und entkam auf dem italienischen Luxusdampfer "Rex" nach New York.
"Kindertransport"
Lilly wurde kurz vor ihrem 19. Geburtstag mit dem von den Nazis ein Jahr lang geduldeten "Kindertransport" nach England evakuiert, und landete nach Abenteuern als Dienstmädchen in Leeds in den Armen ihrer Eltern auf einem Pier in Manhattan. An Erics Seite entfaltete Lilly ihr zeichnerisches Talent weiter. Bis 1949 arbeitete sie im berühmten Comic-Book-Verlag "Fiction House". Ihre Titel wie "The Werewolf Hunter", "Jane Martin", "Lost World" und "Señorita Rio" sind begehrt bei Sammlern und wurden nachgedruckt. Auf der weltgrößten Comic-Messe, alljährlich in San Diego, wurde "Lily Renée", so ihr Künstlername, längst in die Hall of Fame aufgenommen.
1953 ging die Künstlerehe in die Brüche. Erich/Eric heiratete eine vertriebene Österreicherin, eine Witwe, genannt "Pepi", zog mit ihr 1970 nach Wien in die Schleifmühlgasse, verkaufte sein Archiv 1974 der Nationalbibliothek und starb, noch immer US-Bürger, 1979 im Wiener Krankenhaus "Göttlicher Heiland".
Auch Lilly fand einen Partner außerhalb der Kunstszene: den - so bezeichnete ihn ein Nachruf in der "New York Times" - "in vielen Kämpfen um Shareholder-Rechte engagierten Finanzmann" Randolph G. Phillips. Der verschied 1982.
Lilly R. Phillips aber lebt, nun 96 Jahre alt, an der 72. Straße zwischen Madison und Park Avenue in New York. Nur drei Blocks vom Österreichischen Generalkonsulat entfernt. Der Doorman in Uniform steuert die Kabine von seinem Kommandopult aus in den siebenten Stock. Eine einzige Wohnungstür, wie vor einem Privatlift. Eine großgewachsene Dame mit fester Stimme und gen Himmel fliehenden Haaren empfängt. Ihre einzige Mühsal: Sie sieht schlecht.
Mila, die mollige Latina, angezogen wie am Sprung in eine Disco, wird nur gerufen, wenn Bücher, Alben, Mappen mit Zeichnungen zu suchen sind. Der Autolärm unterkriecht auch hier, in teurer Lage, die alten einfachen Fenster. Geborgenheit, Cocooning im hohen Alter? Nein, Widerstand.
Der Gast war darauf vorbereitet, wer und was ihn erwartet. Denn Lilly Phillips erzählte schon dreimal für die Öffentlichkeit, was ihr aus ihrem Leben wichtig erscheint: 2006 Trina Robbins, einer Leuchtfigur der amerikanischen Underground-Comix-Bewegung, 2010 dem Magazin "Newsweek" und, am ausführlichsten, 2012 dem österreichischen Zivildiener Michael Spiegl, heute Obmann des "Vereins Gedenkdienst", für die Austrian Heritage Collection des Leo Baeck Institute. In unserem Gespräch will sie deutsch sprechen, für die Leser in Österreich. Ein sonores, nachdrückliches Deutsch. Oft fällt sie in das ihr längst geläufigere Englisch.
Lebensbuch
Trina Robbins, Jahrgang 1938, machte die für die Comic-Szene längst verschollene Kollegin 2011 auf ihre Weise wieder bekannt: Mit dem Comic-Book "Lily Renée, Escape Artist", Untertitel "From Holocaust Survivor to Comic Book Pioneer". Die Österreichische Nationalbibliothek führt das 98-Seiten-Buch seit einigen Wochen im Katalog. Wer sich für die Arbeitsteiligkeit in diesem kulturindus-triellen Prozess interessiert, findet im Impressum Antworten. Dort werden die Urheber von Story, Pencils, Inks und Coloring in der Reihenfolge ihres Gebrauchtwerdens genannt. Lilly und Eric wechselten in ihrer Zusammenarbeit oft die drei letztgenannten Rollen.
Lilly Phillips hat das Buch nur mehr im Kopf - die Augen machen nicht mit. Kapitel eins: Wien 1938. Das erste Bild: eine idyllische Straßenszene im Spätwinter. Zwei Kirchtürme und Berge im Hintergrund. Ein Brunnen noch eingeschaltet, ein Weihnachtsbaum übrig. Der Schankbursch vor dem Gasthaus spricht mit einem Mann in Ausseer Lederhose. Gegenüber ein Bürgerpaar. Im offenen Autocoupé eine Dame mit Hut, Pelzstola und weißen Rosen. Dann eine Doppelseite Wiener Kultur- und Geistesleben. Ein Renaissancepalast ähnlich der Universität, die Eltern schicken Lily in die Oper, ins Kinderballett, in eine Kunstschule - "ihre Kunst war ausgestellt in einer Galerie". Doch schon ein Warnsignal: "One day, it all changed . . ."
Wiener Erinnerungen
Kampfpanzer auf der Straße (die Modelle sind jünger als 1938 . . .), Soldaten mit Hakenkreuzen auf ihren Armbinden in Marschkolonnen, Jubelwiener am Straßenrand, Papa und Mama blicken traurig aus dem Fenster. Zivilpolizei beschlagnahmt Hausrat, "Jude" ist auf ein Auslagenfenster geschmiert, in die Wohnung der Wilheims werden delogierte Juden einquartiert. Die Freundinnen wollen nicht mehr mit Lily spielen, Onkel Samuel wird deportiert und kommt später in Buchenwald ums Leben. Juden, die um Ausreisepapiere anstehen, werden in eine Synagoge getrieben.
Im November hat Lily einen schrecklichen Traum: Die Synagogen brennen. Es ist der Vorabend des Novemberpogroms ("Night of Broken Glass"). Auf der nächsten Buchseite sieht man sie brennen. Die Familie erfährt von der Chance "Kindertransport". "Wir werden uns in wenigen Wochen wiedersehen", versprechen die Eltern. Doch in Leeds hat Lily bei Pflegefamilien als Haus- und Kindermädchen viel durchzustehen - bis sie, nach Kriegsbeginn eine "feindliche Ausländerin", nach London flieht und mit Scotland-Yard-Hilfe ein Schiff nach Amerika besteigt.
Noch mehr Wiener Erinnerungen? Die Eltern, erzählt Lilly Phillips, fanden in den Notjahren nach dem Krieg in der Quellenstraße ihre erste Wohnung. Die letzte Wiener Adresse: Bruckner-straße 4, mit Blick auf die Karlskirche und das Palais Schwarzenberg (Lehmanns Adressbuch 1940 verzeichnet einen "Wilheim R., Israel. Privat"). Zur Schule ging sie im "Wiener Frauen-Erwerb-Verein" am Wiedner Gürtel, der heutigen Sir-Karl-Popper-Schule. Dem darauf spezialisierten Schweizer Fotokünstler Martin Imboden (1893-1935) stand Lilly als Ballettschülerin Modell. In einem Fotoalbum findet Frau Phillips trotz der Sehschwäche zwei Imboden-Bilder.
In New York herrschte bittere Not in einer Einzimmerwohnung in der 2 West. Vaters erster Überlebensjob: Aufzugsführer. Die Tochter malte Edelweiß auf Holzbüchsen, modelte und zeichnete für Woolworth-Kataloge Oberbekleidung für 50 Cent die Stunde. Bis Mutter in einer Zeitungsannonce entdeckte, dass der "Fiction"-Comic-Book-Verlag Mitarbeiter suche. Als erstes zeichnete sie für die "Supernatural Horror"-Serie "Werewolf Hunter". Dann für "Jane Martin", eine Pilotin, die in Südamerika gegen Nazis kämpft. "Señorita Rio" war eine brasilianische Nachtclub-Blume, die Lilly in den Leopardenpelz kleidete, von dem sie selbst träumte.
1943 heiratete sie, es war das zweite Mal. Für Eric Peters war es die dritte Ehe. Bei gemeinsamen Freunden hat man sich kennengelernt. Es war Liebe auf den ersten Blick. "Meinem Mann, einem Physiker, sagte ich, dass mich mit Eric mehr verbindet als mit ihm." Es war nicht nur der Geburtstag. Es war die Kunst. Und wohl auch die Armut, die sie zusammenschweißte. "Wir haben wegen des Geldes Comics gezeichnet", sagt sie heute ohne Sorge, einen Nimbus zu zerstören. Auch die feministische Heroisierung ihrer Pionierrolle will sie ironisch unterlaufen: "Die Comic-Book-Verlage engagierten Frauen, weil die Männer im Krieg waren." Im Duo mit Eric zeichnete sie, was sie am besten konnte: "Bei ,Abbott & Castello‘ habe ich alle Damen gemacht und er die Männer."
Eric als Aristokrat
Nach dem Ausscheiden aus dem "Fiction"-Team 1949 arbeitete sie weiter für die Modebranche - darunter der amerikanische Ableger von Lanz-Trachtenmode - und für Juweliere. Eric zeichnete bis 1952 weiter Comics. Doch sein Soloprogramm lief auch während der Ehe weiter: Karikaturen von Zelebritäten wie Joyce, Einstein, Peter Lorre, Marilyn Monroe, Greta Garbo für angesehene Zeitungen und Magazine.
Eric, sagt Lilly Phillips, sei ein Kind gewesen, das sie als Mutter brauchte. Aber, wie sie andeutet, nicht nur sie. "Er hatte viele Talente, war ein hervorragender Fotograf und baute aus altem Holz aus Kirchen Violinen - like Amati." Ein Foto der berühmten Evelyn Hofer (1922-2009), mit der Lilly befreundet war, zeigt im Album den "Cartoonisten" - so die Bezeichnung in der US-Volkszählung 1940 - als strahlenden Herren. Sie hatten eine Wohnung 102 West 75th Street, er dazu noch ein Atelier in der 73. Straße.
"Er dachte, er sei ein Aristokrat. Solche schlafen lange, sagte er. Ich musste ihn zur Lunchtime von meinem Arbeitsplatz im Fic-tion House aus anrufen und aufwecken." Eine Nenn-Nichte Erics in Wien (und nach dem Tod seiner Witwe Josephine die Erbin) bestätigt: "Er war ein feiner Herr, der Gamaschen trug und splendid war. Aber er hatte immer Angst".
Über seine Herkunft ließ Eric seine Frau im Unklaren. Jude? Nein, katholisch. Als Erics Vater starb, sei er vier Jahre alt gewesen und habe den Namen seiner Mutter bekommen, sie sei eine "von Peters" gewesen. Sie weiß auch um seine Ängstlichkeit. Er war schon ausgezogen, als er ihr sagte, es gäbe unter dem Haus, wo er nun wohnt, einen Fluss, das mache ihn nervös und er könne nicht schlafen. "Ich habe ihn dann nicht mehr gesehen."
Auf die Mittteilung, dass sein Urnengrab am Wiener Zentralfriedhof schon aufgelassen sei, fragt sie besorgt zurück: "Hat sich niemand darum gekümmert?"
Zurück zur Kunst. In einer Mappe, zwischen jedem Blatt ein Seidenpapier, wie es sich gehört, verwahrt Lilly Phillips nur wenige Comic-Seiten. Entwürfe in diesem Zeichenfach verschwinden in der Postproduktion und Druckerei. "Das ist der Job: Wenn man fertig ist, gibt man sie ab." Viele Comics, auch aus der gemeinsamen Zeit, sind in Fan-Editionen nachgedruckt und auch im Netz deponiert.
"Familienporträts"
Auf sechs Blättern in Passepartouts ist die Signatur "Lily Renée Peters" zu erkennen - das "Peters" freilich wurde nachträglich abgedeckt. Rückgewinnung von Selbstwertgefühl nach der Scheidung? Lilly nennt die Serie "Familienporträts" und erklärt sie in einem Atemzug als Art Nouveau und American Gothic. Glasklar gezeichnet, doch keine Schönbilder, wahrscheinlich um 1950. Die Wissenschafter-Familie im Elfenbeinturm. Die Durchschnittsamerikaner nur am Sport interessiert. "Der Vater spielt Golf. Die werden nicht erwachsen, sondern bleiben Kinder", erklärt sie. Nur den von ihr gezeichneten "Intellektuellen" soll man ansehen, dass sie was Neues suchen.
Gibt es im figurativen Zeichnen einen "amerikanischen Stil"? Europa und die USA entwickelten sich in den zwanziger, dreißiger Jahren in der Mode weit auseinander. Die Modeblätter aus den vierziger, fünfziger Jahren zeigen eine Sachlichkeit ohne Pathos, verliebt in die Geometrie klarer Linien bis hin zum Pakt mit dem Kurvenlineal. Lily Renées Parade von bunten "Girls auf der Fifth Avenue" könnte von Tomi Ungerer sein, eine endlose, weil rundumlaufende Seilartistenszene von Saul Steinberg.
Lilly und Randolph Phillips bekamen zwei Kinder, Nina und Richard. Inzwischen hat sie vier Enkel und ist Urgroßmutter. 1977 stattete sie noch ein Erfolgsbuch von Margaret Sperry mit Cover und Illustrationen aus dem Leben der Insekten aus: "The Battle of the Bees". Zwei Kinderbücher, die sie selber schrieb und bebilderte, blieben ungedruckt. Sie schrieb auch mehrere Theatersketches und erzählt von einem grotesken Plot, in welchem Hitler ein Alptraum plagt und eine Sekretärin Watte in den Ohren hat und nicht hören kann, was er sagt.
Was sie "eine schreckliche Zeit" nennt, hat sie in New York nicht verlassen. Trotzdem will sie noch einmal zurück auf Besuch nach Wien. Seit 1966 sei sie nicht mehr dort gewesen. Hier lebt ihre Enkelin Joey mit Mann und Baby. Hier würde sie auch gerne Zeichnungen ausstellen oder sich an einer Comic-Book-Schau beteiligen. Am liebsten im Mai, wenn das Klima Lieblichkeit verspricht.
Ohne Begleitung traut sie sich die Reise allerdings nicht mehr zu. Doch im Moment, da sie von ihrer Schwäche spricht, wechselt sie sofort das Thema. Wien war das Stichwort. Ihr passt nicht, dass man Gustav Klimt so viele uneheliche Kinder nachsagt. Er sei doch ein besorgter Vater gewesen, der so tief getrauert habe, als ihm ein Kind starb. Es wird ihr Wort zum Abschied: "Klimt zeichnete die Frauen nicht, wie ein Mann, sondern wie eine Frau sie sieht. Ich weiß das, weil ich mich selber mit der Frau identifizierte, wenn ich eine zeichnete."
Hans Haider, geboren 1946, lebt als Kulturjournalist und Publizist in Wien. Theater- und Architekturkritiker der "Wiener Zeitung".