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Vom Solidaritätsgebot und dem Versagen der Eliten

Von Saskia Blatakes und Thomas Seifert

Wirtschaft
dem Versagen der Eliten

Der italienische Verteilungsökonom Giacomo Corneo im Interview.


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"Wiener Zeitung": Sie vergleichen in Ihrer jüngsten Studie die Lebenseinkommen der 1935 Geborenen mit jenen der Babyboomer. Das Ergebnis: Die Ungleichheit zwischen den Einkommen hat sich um 85 Prozent erhöht. Woran liegt das?Giacomo Corneo: In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg hat es langfristige Veränderungen in der Weltwirtschaft gegeben. Zum einen den Zusammenbruch des Realsozialismus und zweitens das Eintreten Indiens und Chinas in den Weltmarkt. Das hat die relative Knappheit des Faktors Arbeit erheblich reduziert und den Arbeitsmarkt in den westlichen Ländern unter Druck gesetzt. Ein Nebeneffekt war die zunehmende Schwäche der Gewerkschaften. Gleichzeitig haben wir den Aufstieg des Finanzkapitalismus erlebt und ein Auseinanderdriften an der Spitze der Einkommensverteilung.

Bei einem Vortrag an der Wirtschaftsuniversität Wien sprachen Sie unlängst darüber, dass auch persönliche Entscheidungen eine immer größere Rolle spielen.

Ja, nachdem sehr lange die materielle Sicherung im Mittelpunkt des Alltags stand, sind wir jetzt aufgrund des Wirtschaftswachstums in einer Phase der Menschheitsgeschichte, in der wir uns von diesen materiellen Zwängen befreien können. Ein Teil der Bevölkerung hat sich freiwillig entschlossen, sich anderen Dingen als dem Geldverdienen zu widmen, wie zum Beispiel mehr Zeit mit den eigenen Kindern zu verbringen.

Keynes prophezeite in seinem Aufsatz "Economic Possibilities for our Grandchildren", dass sich nachfolgende Generationen hauptsächlich ihrem Vergnügen widmen können, während Computersysteme und Roboterarmeen die Arbeit erledigen. Eingetreten ist das Gegenteil. Was ist schiefgelaufen?

Die Sicht Keynes ist nicht vollkommen richtig. Einerseits können wir uns leisten, immer weniger zu arbeiten, weil wir immer weniger Zeit brauchen, um unsere Konsumgüter zu produzieren. Damit hatte er recht. Auf der anderen Seite verzichten wir auf eine zunehmend große Menge an zusätzlichen Konsumgütern, wenn wir eine Stunde mehr Freizeit erleben. Außerdem neigen Menschen dazu, darauf zu schauen, was der Nachbar hat. Niemand will schlechter dastehen als die Referenzgruppe. Das führt zu einem Hamsterrad-Effekt. Aus kollektiver Sicht wäre es natürlich besser, wenn alle ein bisschen verzichten, zum Beispiel um die Umwelt weniger zu verpesten. Aber aus individueller Sicht möchte niemand der Erste sein, der diesen Weg wählt. Es ist wie beim Gefangenen-Dilemma: Wir stecken in dieser Situation fest.

Ihre Studie, in der Sie Daten aus der deutschen Sozialversicherung ab 1935 auswerteten, ergab eine schockierende Zahl: Während bei den 1935 Geborenen nur etwa zwei Prozent Arbeitslosigkeit von mehr als einem Jahr erlebt hatten, sind es bei den Babyboomern bereits an die 30 Prozent.

Ja, und das hat zwei sehr problematische Folgen. Durch die Arbeitslosigkeit verringern sich die Verdienste, die Armutsgefahr steigt. Außerdem nimmt bei den Arbeitnehmern das Gefühl des Zusammenhalts ab. Die Langzeitarbeitslosen haben ganz einfach weniger Kontakt zur Arbeiterschaft. Das verringert die politische Durchsetzungskraft.

Ihre Studie endet in den Sechzigern und zeigt einen relativ klaren Kausalzusammenhang von Bildung und Einkommen. Trifft das für die jüngeren Generationen überhaupt noch zu - Stichwort wissenschaftliches Prekariat?

Zugang zu höherer Bildung ist immer noch ein wichtiges Instrument, langfristig wirtschaftliche Perspektiven zu sichern. In einigen Ländern - etwa den USA - ist die Bildungsrendite sogar gestiegen. In Deutschland sind die Zahlen aber nicht eindeutig, weil wir wirklich das von Ihnen erwähnte Phänomen haben. Was ich schlimm finde, ist, dass wir in Deutschland und auch in Österreich ein duales Schulsystem haben, mit vergleichsweise kurzen gemeinsamen Lernwegen und früher Trennung. Das zementiert die Spaltung. Das ist auch volkswirtschaftlich gesehen nicht sinnvoll, denn wir "verpassen" viele begabte Kinder bildungsferner Eltern. Das ist ein Egoismus-Problem der Mittelschicht. Sie möchte die privilegierten Startchancen für ihre Kinder nicht aufgeben. Das Schlimme daran: Je stärker die Ungleichheit in der Gesellschaft, desto weniger will die Mittelschicht auf diese Privilegien verzichten. Ein Teufelskreis.

Frühkindliche Bildung etwa durch Kindergärten ist in Österreich sehr teuer, während die Universitäten fast gratis sind.

Wenn wir von einem fixen Budget ausgehen, ist es wirklich sinnvoll, dieses umzuschichten. Von der tertiären hin zur primären beziehungsweise vorschulischen Bildung. Viele empirische Studien zeigen, dass diese eine enorme Bedeutung für die spätere Entwicklung hat. Vor allem die bessere Ausbildung der Erzieherinnen und Erzieher ist wichtig.

Ihre Studie konzentriert sich auf westdeutsche Männer. Wie hat sich die Ungleichheit für Frauen entwickelt?

Bei den Frauen finden wir eine ähnliche Entwicklung, das heißt, die älteren Kohorten waren weniger ungleich als die jüngeren. Aber die Struktur ist weniger klar als bei den Männern. Das liegt daran, dass die Teilnahme der Frauen am Arbeitsmarkt einerseits stark zugenommen hat. Andererseits bilden die Frauen dort einen "Puffer": Je nach Konjunkturzyklus sind sie es eher, die sich vom Arbeitsmarkt zurückziehen.

Sie fordern die Besteuerung von hohen Erbschaften, während Sie niedrigere Erbschaften als Quelle sehen, um die Ungleichheit bei den Babyboomern auszugleichen. Österreich hat 2008 die Erbschaftssteuer abgeschafft.

Das ist eine verkehrte, kontraproduktive Maßnahme, denn langfristig steigen die Netto-Privatvermögen in Relation zum Volkseinkommen. Die Vermögen sind viel ungleicher verteilt als die Einkommen. Erbschaften sind noch ungleicher verteilt. Es ist offensichtlich, dass wir eine sehr progressive Besteuerung von Erbschaften haben sollten. Das bedeutet hohe Freibeträge und hohe Steuersätze bei den sehr hohen Erbschaften.

Reden wir über die Fairness der Steuerstruktur. Wer in Österreich drei Millionen erbt, zahlt 25 Prozent Kapitalertragssteuer, wenn er von den Renditen leben will. Ein arbeitender Mensch zahlt bis zu 50 Prozent Steuern. Leistungslose Einkommen werden also relativ niedrig besteuert.

Ja. Die Diskriminierung von Arbeitseinkommen hat zwei negative Folgen. Erstens hat das mittel- bis langfristige Auswirkungen auf die Vermögenskonzentration. Die jährliche Rate, mit der sich Vermögen akkumulieren, hängt von der Nettorendite des Kapitals ab. Es macht einen großen Unterschied, ob wir erhebliche Vermögenseinkünfte mit 25 oder mit 50 Prozent belasten. Die zweite Auswirkung hat mit Anreizen zu tun. Ein Beispiel: Sehr gut ausgebildete Physiker mit ausgezeichneten Mathematikkenntnissen müssten eigentlich in Forschungs- und Entwicklungsabteilungen von großen Firmen arbeiten. Dort werden sie aber mit 50 Prozent Grenzsteuersatz belastet. Wenn sie sich dagegen entscheiden, als Spekulanten in die Finanzbranche zu gehen, erzielen sie höhere Einkommen, die auch noch weitaus weniger belastet werden. Diese Diskriminierung führt also zu einer verzerrten Allokation von Begabung. Anstatt neue Produkte zu erfinden, setzen diese Leute ihre Begabung ein, um zu zocken.

Sprechen wir also über die Finanzkrise.

Wir sollten nicht zu pessimistisch sein, denn wir haben die Fähigkeit, aus unseren Fehlern zu lernen. Vergleichen wir die heutige Krise mit der Großen Depression von 1929. Damals war noch nicht bekannt, dass man durch eine antizyklische Geld- und Fiskalpolitik die Binnennachfrage stärken kann. In den folgenden Jahren ist man mit der keynesianischen Makro-Steuerung ganz gut gefahren. Ich sehe die Finanzkrise auch als Chance, aus unseren Fehlern zu lernen. Die Folgen der Großen Depression waren übrigens ungleich verheerender, also haben wir schon etwas dazugelernt.

Martin Wolf von der "Financial Times" sagte in einem Gespräch mit der "Wiener Zeitung", dass die Immobilienblasen nötig waren, um auch nur die Illusion von Beschäftigung zu erhalten.

Wir haben tatsächlich gelernt, dass diese Blasen uns nur kleine Pausen bescheren und zu vermeiden sind. In Bezug auf den Arbeitsmarkt müssen wir sehr differenziert agieren. Jedes Land hat einen anderen Arbeitsmarkt. Es ist generell positiv, mehr Arbeitsplätze im ersten Sektor zu schaffen. Wir brauchen eine koordinierte Einkommenspolitik. Die verlangt aber koordinierte und starke Gewerkschaften. Vielleicht haben wir den Zug schon verpasst. Wir brauchen zum einen die Solidarität der gut situierten Arbeitnehmer und Vereinbarungen, die sicherstellen, dass die Gewerkschaften ihre Position nicht ausnutzen, um irrsinnige Lohnvorstellungen durchzusetzen. Der Staat muss qualifizierte Facharbeiter liefern, die Unternehmer müssen investieren, um Arbeitsplätze zu schaffen.

Also eine koordinierte Einkommenspolitik durch eine Aufteilung der Produktivität zwischen Unternehmern und Arbeitnehmern?

Genau. Das ist eine zivilisiertere Strategie als die Dualisierung des Arbeitsmarktes, die eine unerträgliche Ungleichbehandlung und Unsicherheit für die jüngeren Generationen bedeutet. Das ist echte Generationen-Ungerechtigkeit.

Wie kann man die verhindern? Haben die Gewerkschaften versagt?

Wir haben in den letzten 20 Jahren ein Elitenversagen in Europa erlebt. Das schließt die Gewerkschaftseliten mit ein. Sie haben es nicht geschafft, sich mit den Sozialpartnern im Sinne des Gemeinwohls zu organisieren. Ich habe den Eindruck, dass wir etwas verwöhnt sind. Es gibt zwei Arten, den eigenen Job zu verstehen. Entweder man möchte der Gesellschaft etwas geben oder man arbeitet nur für sich selbst. In jedem Menschen sind wohl beide Ansprüche vorhanden. Aber es hat sich verschoben. Und nicht zum Besseren.

Tony Atkinson, der Doyen der Ungleichheitsforschung, spricht sich für ein bedingungsloses Grundeinkommen aus.

Diese Idee macht nur Sinn für sehr homogene Gesellschaften und wenn wir erwarten können, dass sich alle Mitglieder beteiligen. Bei heterogenen Gesellschaften sehe ich eine enorme Gefahr, dass sich bestimmte Gruppen vom Band der Gegenseitigkeit freisprechen und auf Kosten der Restgesellschaft leben. Im multi-ethnischen Europa halte ich das für sehr gefährlich. Die Aufstände der Bauern gegen den Klerus und die Feudalherren im Mittelalter oder die Aufstände der Arbeiter gegen die Industrie-Magnaten in der Industriellen Revolution waren Revolten derjenigen, die geschuftet haben, gegen jene, die von den Früchten der Arbeit anderer lebten. Das sollten wir nicht nachahmen. Unsere Gesellschaft beruht auf Reziprozität. Brüderlichkeit heißt, jeder trägt bei, was er kann.

In Bezug auf die Europäische Union sprechen sowohl links- als auch rechtspopulistische Parteien von einem Europa der "Bauern, Bonzen und Banker", in dem sich ganze Schichten deklassiert fühlen. Wann reißt das Band der Solidarität?

Es gibt Zeichen, wie zum Beispiel die Reaktionen in den Medien auf Fälle von Steuerhinterziehung. Viele haben den Eindruck, dass jene, die "größere Schultern" haben, sich vom Solidaritätsgebot verabschieden. Es ist eine sehr negative Entwicklung, wenn das Gefühl herrscht, dass nur der Dumme Steuern zahlt. Wenn selbst die horizontale Gerechtigkeit am Ende ist, halte ich das für ein sehr gefährliches Symptom. In Deutschland sehen wir ein Verabschieden im Bildungsbereich. Es gibt immer mehr private Schulen. Das sind erschreckende Entwicklungen.

Das heißt, Sie sehen ein Ausscheren aus der Gesellschaft eher bei den höheren Schichten als bei den Globalisierungsverlierern?

Ja. Und die oben haben immer eine Vorbildfunktion. Leider haben wir Berlusconi in Italien - ein erschreckendes Vorbild.

Wie sieht Ihre Zunft den Erfolg des Popstars der Kapitalismuskritik, Thomas Piketty?

Thomas war noch vor wenigen Monaten bei mir zum Essen eingeladen und wir haben über vieles gesprochen - nur nicht über sein Buch (Anm. "Das Kapital im 21. Jahrhundert"). Der Erfolg hat mich überrascht. Für uns als kritische Ökonomen ist das eine einmalige Chance.

Giacomo Corneo, geboren 1963 im italienischen Arona (Piemont), ist Professor an der Freien Universität Berlin und einer der renommiertesten Verteilungs-Ökonomen. Sein jüngstes Buch "Bessere Welt - Hat der Kapitalismus ausgedient?" basiert auf einem Streitgespräch zwischen ihm und seiner systemkritischen Tochter. Zuletzt sprach Corneo in Wien auf der Tagung der Nationalökonomischen Gesellschaft an der Wirtschaftsuniversität.