Zum Hauptinhalt springen

Vom Wolf, der in den Wald davonläuft

Von Manfred Füllsack

Politik

"Die Arbeit ist kein Wolf, der in den Wald davonläuft", lautet ein russisches Sprichwort, das in der Sowjetzeit gerne neuen Fabriksdirektoren oder Abteilungsleitern entgegengehalten wurde, die, frisch von der Universität und darauf aus, sich mit gesteigerten Produktionszahlen zu profilieren, versuchten, ihren Untergebenen ein forscheres Arbeitstempo abzuverlangen.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 24 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Der Verweis auf die Abhängigkeit des Betriebs von ohnehin auch nicht schneller arbeitenden Zuliefer- und Abnehmerfirmen und auf die drohende Anhebung des Plansolls bei Übererfüllung der Pläne oder, falls dies noch nichts nützte, auf die nahezu allmächtigen sowjetischen Gewerkschaftsorganisationen, die dem Arbeitnehmer alle, dem Arbeitgeber hingegen kaum Rechte gaben, erlaubte es gewöhnlich, junge Enthusiasten, die meinten, alteingespielte Arbeitsvorgänge rationalisieren und effektivieren zu können, schnell einzubremsen.

Weil jeder Versuch, die Logik des Apparates zu durchbrechen, nur scheitern konnte, blieb "Reformern" in der Sowjetunion meist nichts anderes übrig, als sich ebenfalls in den gemächlichen Trott des sowjetischen Wirtschaftslebens einzuordnen. Schon nach kurzer Zeit an ihrem neuen Arbeitsplatz verwiesen auch sie dann die "von oben" anfragenden Planstellen mit höflicher Bestimmtheit auf den "Wolf, der nicht in den Wald davonläuft" und fügten sich damit nahtlos ins Bild des allgemeinen sowjetischen Arbeitsethos, - einem Ethos, das von einer zentralgeplanten und von jeglicher Marktlogik abgekoppelten Produktion, einer weitgehenden Unabhängigkeit der Löhne von Arbeitsproduktivität und Arbeitsqualität und vor allem von einem in der Verfassung festgeschriebenen Recht auf Arbeit geschaffen worden war, das jedem, der seinen Arbeitsplatz verlor oder aufgab, innerhalb kürzester Zeit zentralgeplant einen neuen zuwiesen ließ.

Ein "Ethos" wird Geschichte

An dieses Ethos und das von ihm bedingte gemächliche Arbeitstempo, das die durchschnittliche Produktivität des Sowjetarbeiters auf ein Viertel seines deutschen und auf weniger als ein Fünftel seines amerikanischen Kollegen reduzierte, ihn allerdings nach Feierabend dazu nötigte, stundenlang um defizitäre und qualitativ minderwertige Waren in halbleeren Geschäften anzustehen, erinnern sich heute vermutlich so manche Russen bereits mit Wehmut.

Denn seit der russischen Gesellschaft der Wind der freien Marktwirtschaft immer heftiger um die Ohren bläst, ist dieses Ethos dazu verurteilt, zur Geschichte zu werden. Die Unmöglichkeit, die Wirtschaft weiterhin zentralgeplant zu administrieren und ihre unrentablen Bereiche im früheren Ausmaß mittels staatlicher Zuwendungen gegen jede ökonomische Logik am Laufen zu halten, hat die einst per Gesetz vollbeschäftigte Gesellschaft nahezu über Nacht mit einem Phänomen bekannt werden lassen, das in der Sowjetdiktion stets nur als "bourgeoise", "westliche" und der sozialistischen Gesellschaft völlig fremde Sozialpathologie beschrieben worden war, nämlich mit dem Phänomen der Arbeitslosigkeit.

Während noch zu Sowjetzeiten amerikanische Arbeitslose von den russischen Medien als Opfer der kapitalistischen Ausbeutung präsentiert und unter großem propagandistischen Aufwand zur "Erholung" ins Land der Arbeiter eingeladen worden waren, begannen sich mit der postsowjetischen Wende immer mehr Bedürftige an die "Služba zanjatosti", an das russische Arbeitsmarktservice zu wenden.

Je mehr Betriebe im Zuge der Wirtschaftsreformen zusperren mussten oder je mehr sie - aufgrund des Fehlens klarer gesetzlicher Bankrott-Regelungen - statt zuzusperren einfach die Löhne über Monate hinweg schuldig blieben und ihre Arbeiter auf sogenannten "administrativen Urlaub" schickten, umso mehr begannen sich nun auch in der postsowjetischen Gesellschaft Leistung und Qualität als die eigentlich bestimmenden Faktoren der Arbeit durchzusetzen. Müßiggang oder die Freiheit, sich auch einmal während der Arbeitszeit das Ausschlafen des Katers vom Vorabend zu gönnen, wurden innerhalb kürzester Zeit vom alteingesessenen und vehement gegen jeden Reformversuch verteidigten Gewohnheitsrecht zum Kündigungsgrund. Der russische Wolf der Arbeit begann, in den Wald davon zu laufen.

Heute stehen die ehemaligen Sowjetarbeiter zu Tausenden auf den Plätzen der größeren Städte, auf den Ausfalls- oder Fernverkehrsstraßen im ganzen Land und versuchen mit dem Verkauf aller möglichen und unmöglichen Dinge zumindest ein paar Rubel für das Notwendigste zusammenzukratzen.

"Monokultur" schafft

Arbeitslosigkeit

In Ivanovo zum Beispiel, einer klassischen sowjetischen Textilindustriestadt, der die in diesem Industriezweig vorwiegend beschäftigten Frauen in der Sowjetzeit den Beinamen "Gorod nevesti", "Stadt der Bräute" eingetragen hat, stehen die einstmaligen Textilarbeiterinnen in langen Reihen auf der Straße und verkaufen "Semecki" - Sonnenblumenkerne - oder im Wald gesammelte Pilze und Beeren, oder auch Gemüse und Obst, das sie in ihren Kleingärten angepflanzt haben.

Ihre ehemaligen Arbeitgeber, die sowjetischen Textilkombinate, die mit Bezeichnungen wie "Im Namen des 8. März" auf die einst viel gepriesene Einbeziehung der Frauen in den gesellschaftlichen Produktionsprozeß erinnern, sind unfähig, sie noch zu beschäftigen. Die von den Fabriken verarbeitete, einst aus der Sowjetrepublik Usbekistan zentralgeplant hierher gelieferte Baumwolle müßte heute im unabhängig gewordenen Staat Usbekistan zu Weltmarktpreisen angekauft werden. Dazu sind die behebigen und traditionell auf äußerst arbeitsintensive Produktion ausgelegten Betriebe aber nicht mehr in der Lage.

Weil sie gemäß sowjetischer Planrationalität aber meist monopolistisch in einzelnen Regionen konzentriert wurden, alternative Arbeitgeber in diesen Gebieten also nicht existieren, bleibt den ehemaligen Arbeitern der Textilwerke ebenso wie den Tausenden anderen, von ähnlichen Strukturproblemen betroffenen Arbeitslosen Russlands meist nichts anderes übrig als sich in die immer länger werdenden Warteschlangen vor den russischen Arbeitsämtern einzureihen.

Behörden überfordert

Was die Lage für die Betroffenen dabei dramatisch zuspitzt ist freilich der Umstand, dass auch die Behörden unter den bestehenden Bedingungen immer weniger in der Lage sind, der rasant anwachsenden Arbeitslosenproblematik mit wirksamen Maßnahmen zu begegnen.

Die Arbeitsämter zum Beispiel sollten, gemäß übernommener sowjetischer Arbeitsrechtsregelungen, die Versicherungsbeiträge, aus denen die Fonds für Arbeitslosengelder bedient werden, von den Unternehmern - und nicht von den Arbeitnehmern - kassieren. Wenn allerdings ein Unternehmen faktisch bankrott ist, keine Löhne mehr auszahlen kann und seine Arbeiter entlassen muß, dann ist es natürlich in der Regel auch nicht mehr in der Lage, seine Pflichten gegenüber den Beschäftigungsfonds zu erfüllen.

Gerade in jenen russischen Regionen also, in denen die Arbeitslosigkeit aufgrund stillstehender Industrie am höchsten ist und die Arbeitsämter am meisten zu tun hätten, fehlen auch die Mittel weitgehend, um den Arbeitslosen die ihnen gesetzlich zustehende Unterstützung zukommen zu lassen. Überregional werden die Mittel der Beschäftigungsfonds überdies nur in geringem Ausmaß verteilt, sodaß heute nur in 15 von insgesamt 89 russischen Regionen Arbeitslosenunterstützungen halbwegs vollständig und zeitgerecht ausbezahlt werden können.

Im gesamtrussischen Schnitt erhalten die russischen Arbeitslosen nur mehr ein Viertel der ihnen per Gesetz zustehenden Unterstützungen.

Aber auch dort, wo Arbeitslosengelder noch ausbezahlt werden, schaffen sie real keine eigentliche Lebensgrundlage für die Betroffenen. Ihre Höhe berechnet sich nach dem letzten Einkommen, das aber von den russische Arbeitgebern, um Ausgaben für Steuern und Abgaben gering zu halten, in der Regel offiziell als wesentlich geringer angegeben wird als es inoffiziell tatsächlich ist. 1999 machte das offizielle durchschnittliche Monatseinkommen 1520 Rubel, umgerechnet 62 Dollar aus. Inoffiziell sollen die russischen Arbeiter allerdings mindestens noch einmal soviel verdient haben.

Verzicht auf Registrierung

Das russische Arbeitsministerium schätzt, dass zirca 40 Prozent der Russen offiziell zur Zeit ein Gehalt bezieht, das unter dem Existenzminimum liegt. Die nach dem offiziell angegebenen Lohn errechnete Arbeitslosenunterstützung reicht daher, selbst dort, wo sie ausbezahlt wird, nicht lange, um sich über Wasser zu halten.

Weil darüber hinaus auch die anderen Maßnahmen, die den Arbeitsämtern zur Verfügung stehen, kaum greifen - für Umschulungen fehlen die Mittel und reale Vakanzen werden hauptsächlich unter der Hand vergeben, was die Arbeitsämter anbieten können, sind meist nur abermals Jobs in bankrotten Betrieben, wo die Löhne nicht ausbezahlt werden - verzichten immer mehr Betroffene darauf, sich bei den Behörden als arbeitslos registrieren zu lassen.

Und dies ist die Ursache für eine der auffallendsten Charakteristika der russischen Arbeitslosenproblematik der letzten Jahre, für den Umstand nämlich, dass die offiziellen Arbeitslosenzahlen tatsächlich seit wenigen Jahren wieder sinken, während real immer weniger Russen ein regelmäßiges Einkommen aus einer offiziellen und im Rahmen der bestehenden Arbeitsrechtsregelung gesicherten Arbeit beziehen.

Wirtschaft im Graubereich

Ein immer größer werdender Teil der russischen Wirtschaft findet damit in einem Graubereich statt, für den kaum gesetzliche Bestimmungen existieren und in dem in der Regel weder Steuern, noch Sozialversicherungs- oder Pensionsbeiträge, geschweige denn Gewerkschaftsabgaben bezahlt werden. Abgesehen von den rundheraus kriminellen Branchen wie Rauschgifthandel, Prostitution, Schnapsbrennerei, Schutzgelderpressung etc. fallen in diesen Graubereich vor allem die Tausenden von Klein- und Kleinstunternehmen, die sich in den letzten Jahren als Folge der Notwendigkeit, Eigeninitiative zu entwickeln, gebildet haben.

Als Verkäufer von aus der Türkei, aus Aserbaidschan, aus Vietnam oder auch China selbstimportierten Waren bevölkern die Etablierteren unter diesen Kleinunternehmern spezielle Einzelhandelsmärkte in den größeren Städten, die, asiatischen Bazaren gleich, schon in ihrem buntschillernden multikulturellen Treiben ihre Distanz zu staatlichen Ordnungsbemühungen erkennen lassen. Den periodischen Razzias der Steuerbehörden wird auf diesen Märkten etwa durch das abgesprochene Abspielen bestimmter Melodien über die Marktlautsprecher oder durch ähnliche Finten regelmäßig der Wind aus den Segeln genommen. Die Kleinunternehmen zahlen zwar gewisse Abgaben etwa für den Marktstand oder die Hygieneprüfungen ihrer Produkte, sind aber, weil ihr Kern meist ein Familienbetrieb ist und die zusätzlichen Arbeiter beständig wechseln, arbeitsrechtlich so schwer zu fassen, dass der Großteil der in ihnen Tätigen kaum jemals mit seinen Rechten und Pflichten konfrontiert wird.

Gesetzloser Raum

Weder Arbeitgeber, noch Arbeitnehmer dieses Bereichs wissen in der Regel über die bestehende Gesetzeslage bescheid. Die Gewerkschaften, - entweder traditionelle sowjetische Großorganisationen, die in der postsowjetischen Zeit vor allem an der Wahrung ihrer Machtposition interessiert sind, oder unabhängige neue Gewerkschaften, die allerdings schon die Mittel, um ihre eigenen Mitglieder zu vertreten, nicht haben - zeigen sich bislang an den Arbeitern im Kleinunternehmertum nicht interessiert und die Behörden selbst erschweren die Beziehungen zu diesem Bereich oft durch die Korruptheit und Ignoranz ihrer Beamten.

Schrebergärtner lassen Politiker ruhig schlafen

Wer keine Waren aus dem Ausland importieren kann, beschränkt sich heute oft auf den Verkauf der Produkte der eigenen Hauswirtschaft, in der Regel Obst, Gemüse, Eier und Milchprodukte, die in den 600 m² großen Gärten produziert werden, auf deren Bewirtschaftung sich vor allem die ehemaligen Kolchos- und Sovchosarbeiter zurückgezogen haben. Bereits an die 40 Prozent der russischen landwirtschaftlichen Produktion soll aus diesem Zweig der postsowjetischen Schattenwirtschaft stammen. Dass auch die Kleinbauern, die ihre Schrebergärten mittlerweile um das zigfache intensiver bewirtschaften als einst die Felder ihrer Kolchosen, natürlich in keinen offiziellen Arbeitslosenstatistiken aufscheinen, erlaubt es Politikern zumal in Vorwahlzeiten immer wieder sich in der Gewißheit zu wähnen, die Beschäftigungsprobleme des Landes doch weitgehend im Griff zu haben.

Ob freilich die Situation am Arbeitsmarkt gelöst werden kann, ob die Löhne wieder rechtzeitig ausbezahlt werden, neue Wirtschaftszweige ins Leben gerufen werden, die dem Heer an ehemaligen Staatsarbeitern neue Arbeitsplätze verschaffen und ob die mittlerweile riesige "Reservearmee" von Schwarz- und Gelegenheitsarbeitern wieder unter die Obhut offizieller Strukturen gebracht werden kann, ist eine Frage, an der sich nicht zuletzt wohl die Fähigkeiten des neuen russischen Präsidenten in den nächsten Jahren beweisen werden müssen. Seine Zukunft, sowie die seines Landes wird grundlegend davon abhängen, ob es ihm gelingt, den russischen Wolf wieder aus dem Wald zurückzubringen.