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Vom Wunsch, Winnetou zu sein

Von Gerhard Strejcek

Reflexionen

Die Apachen-Indianer waren keine Friedensengel, wie uns der romantische Karl-May-Held glauben machen wollte. Historische Zeugnisse zeigen Bilder eines kriegerischen, mitunter auch grausamen Stammes.


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Franz Kafka veröffentlichte vor mehr als hundert Jahren einige kleinere Texte, die er sorgfältig auswählte, darunter den aus nur einem Satz bestehenden "Wunsch, Indianer zu werden".

Dieser Titel inspirierte viel später (1994) Peter Henisch zu einem ganzen Buch. Kafkas Text ist insgesamt sehr kurz, ein wenig rätselhaft, wirkt durch den verwendeten Konjunktiv sehnsuchtsvoll und verbreitet einen Hauch von Existenzialismus: "Wenn man doch ein Indianer wäre, gleich bereit, und auf dem rennenden Pferde, schief in der Luft, immer wieder kurz erzitterte auf dem zitternden Boden, bis man die Sporen ließ, denn es gab keine Sporen, bis man die Zügel wegwarf, denn es gab keine Zügel, und kaum das Land vor sich als glatt gemähte Heide sah, schon ohne Pferdehals und Pferdekopf."

Woher stammte Kafkas Indianer-Bild? Von Ausstellungen, wie sie in der k.u.k. Monarchie regelmäßig auch über die indigenen Völker stattfanden, darunter die lebend zur Schau gestellten jungen "Esquimaux", aus authentischen, historischen Darstellungen oder doch (nur) aus dem Roman, wie ihn Karl May in virtuoser Form verfasst und massenhaft unter das Volk gebracht hatte?

Karl Mays "Quellen"

Im Bestseller "Winnetou I", der zunächst 1892 erschien, gibt es mehrere Stellen, die zu einem ähnlichen Bild eines Indianers inspirieren können. Der Winnetou-Text, den Kafka mit Sicherheit gelesen hat, gehört zu den literarisch anspruchsvolleren des Kolportage-autors, Trivialschriftstellers und "Reiseromanciers". May, der nur einmal und lange Jahre nach Erscheinen seiner Tetralogie (Winnetou I-III, Winnetous Erben) die USA bereiste, hatte seine Informationen über Ausrüstung, Sitten und Gebräuche der Mescalero-Apachen selbst aus zeitgenössischen Büchern übernommen.

Bei mehreren Gefängnisaufenthalten wegen Vermögensdelikten, Amtsanmaßung und Nötigung in den 1860er Jahren hatte er die Bücherei der Haftanstalt betreut, wo er kaum mit wissenschaftlich fundiertem Schrifttum in Kontakt gekommen sein dürfte. Aber auch die damals verfügbaren authentischen Schilderungen von Begegnungen mit den Apachen, wie sie etwa von John Ross Browne stammen, kannte May offenkundig nicht. Er hätte nicht Englisch lernen müssen, um diese zu lesen, denn eine deutsche Übersetzung des Werks "Abenteuer im Apachenland" erschien schon 1871 in Jena beim Verlag Costenoble.

Folgeauflagen des Werks kamen ab 1874 in Gera heraus, nicht allzuweit von Mays Heimat Hohenstein-Ernstthal und seinem späteren Wohnort Radebeul bei Dresden entfernt. Noch älter war die 1851 auf Deutsch übersetzte und publizierte Darstellung George Catlins, "Die Indianer-Noramerikas - die während eines achtjährigen Aufenthalts unter den wildesten ihrer Stämme erlebten Abenteuer-Schicksale". Catlins Buch gab es selten, aber Brownes eher nüchterne und vom Geist des Minen- und Explorationsexperten motivierten Schilderungen des Apachenlandes waren mit Sicherheit in Sachsen im Buchhandel und in Büchereien verfügbar.

Es ist reizvoll, Brownes und Mays Schilderungen, die fast zur selben Zeit denselben Schauplatz betreffen, miteinander zu vergleichen. Der irischstämmige Autor, dessen Walfangbuch 1844 Herman Melville insprierte, der im selben Ort wie Jahrzehnte später der 1876 geborene Jack London in Kalifornien lebte (Oakland) und der auch Mark Twain beeinflusste, unternahm mehrere Reisen nach Arizona, Sonora und Texas.

"Mowry-Massaker"

Sein mit Originalzeichnungen versehenes Werk, das die von Jack London hymnisch verehrte Bibliothekarin von Oakland gewiss ihrem Schützling empfohlen hatte, enthält auch einen Bericht vom Mowry-Massaker. Unweit der mexikanischen Grenze waren zwei Minenangestellte von Apachen ermordet worden und wenig später konnte ein allein reisender Arzt mit Mühe demselben Schicksal entkommen. Brownes Reisegruppe, der auch ein Indianerbeauftragter angehörte, fand wenige Wochen nach der Ermordung der beiden jungen weißen Minenarbeiter blutige Pfeile und Kampfspuren am Schauplatz des Überfalls vor.

Gewiss hätte dieser gruselige Ort Karl May angeregt: Es handelte sich um eine Schlucht unweit der Mowry-Silbermine, die ursprünglich "Patagos"-Mine hieß. Die Apachen hatten in einem Bachbett gewartet und ihren späteren Opfern aufgelauert, die sie gnadenlos angriffen. In dieser Gegend lag auch die viel später berühmt gewordene Geisterstadt Ruby, in der mehrfach die Betreiber des einzigen Geschäfts samt Post und Telefonanschluss ermordet wurden - allerdings von weißen und mexikanischen Banditen.

Die Unruhen dort zogen sich demnach mehr als 50 Jahre dahin, in denen sich in Arizona der Ruf eines ungezähmten und immer noch wilden Westens aufrecht erhielt. Die Minenstadt Ruby, deren Name auf die Frau des einzigen Greißlers zurück ging, wurde 1941 verlassen und kann heute noch als ghost town besichtigt werden.

Viele Verteidiger Mays, die in den Karl-May-Jahrbüchern und Artikeln publizierten, verwiesen darauf, dass der Autor auf Basis seines Wissens die Indianer gerecht und einigermaßen authentisch geschildert hätte. Aber die Tücke lag im Detail. Browne hatte sowohl die Kriegstaktik der Apachen in Arizona als auch ihre Ausrüstung, darunter eine Art Lederhelm, beschrieben. In Mays Roman tragen sie keine Kopfbedeckung und werden kurzerhand als Bewohner eines Pueblos hingestellt, in dem Winnetou wie in einem Penthouse lebt. Mays Helden wie der "gemeinsame Häuptling aller Apachen" Intschu-tschuna, Winnetous Vater, kämpfen mit dem Tomahawk, die in Mowry aktive Bande aber schoss mit Flinten, durchbohrte die verwundeten oder toten Opfer mit Pfeilen und Lanzen.

Von vierzehn Gräbern, die Browne in Mowry bei Santa Cruz zählte, stammte ein Dutzend von Überfällen. Mays Apachen sind ebenso kriegerisch, verteidigen sich aber nur gegen unberechtigte Übergriffe der Kiowas oder der Weißen und wenden Marter und Hinrichtung nur nach reiflicher Überlegung und Beschlussfassung an. So weit die Legende, die sich durch Karl Mays Erzähltalent millionenfach verbreitete.

Die Realität sah anders aus, auch was die Konflikte zwischen den Indianerstämmen betraf. Die Hauptfeinde der Apachen in der von May beschriebenen südwestlichen Region waren (teilweise) sesshafte Pimo- und Papagos-Indianer. Diese hatten sich mit den Weißen arrangiert, betrieben - unterstützt durch deutsche Expertise - Ackerbau und litten unter den Viehdiebstählen, der Verwüstung des Ackerlands und den Mordbrennereien der Apachenhorden, die sie regelmäßig heimsuchten. Um die Feinde abzuschrecken, griffen die am Gila-Fluss beheimateten Maricopas zu einer drastischen Maßnahme: Sie töteten einen Apachen-Häuptling und stellten ihn unweit ihres Dorfes gekreuzigt zur Schau, wo der Leichnam in den Jahren 1866/67 als lederne Mumie zu sehen war.

Kreuzigungen

Die Sitte des Kreuzigens übernahmen die Maricopas von den christlichen Einwanderern, da die aus Mexiko kommenden Missionare den Heiland in dieser Darstellung den Indianern gezeigt hatten. Einen dieser Missionare namens Francisco beschreibt Abraham a Sancta Clara, ein anderer, Pater Kino, erlangte lokale Berühmtheit rund um Santa Cruz.

Browne besichtigte die Gedenkstätten und aufgelassenen Siedlungen der Missionare. Am Gila-Fluss sah er auch einen an einem Baum hängenden toten Apachen, den Weiße dort als Mahnmal drapiert hatten. So sah die Zivilisa- tion des noch nicht als Bundesstaat integrierten Territoriums aus, das nach dem Gadsden-Kauf um 1850 zu den USA gehörte.

Weiter nördlich führten die Apachen einen ethisch begründeten, aber grausamen Abwehrkampf gegen die Armee. Auffällig ist einerseits die enorme Dauer des Kriegs, andererseits die angewendete Guerilla-Taktik der bedrohten Indianer. Die Soldaten konnten der in kleinen Gruppen operierenden Krieger lange Zeit nicht habhaft werden, ihre Artillerie war ineffektiv. Zudem verfügten die Indianer über eine perfekte Ortskenntnis, um sich nach Nadelstichangriffen gegen Forts und Transporte rasch wieder zurückzuziehen.

Trotzdem verloren die Apachen ihren Kampf, weil die bürgerkriegsgestählte Kavallerie zu einer List griff und Apachenscouts engagierte. Erst vor kurzem erschien ein Werk, das die Rolle dieser Scouts, die je nach Blickwinkel, als Verräter oder Verbündete galten, entsprechend würdigt. In der Militärgeschichte waren es nur die weißen Truppen, welche die Indianer nach Westen gedrängt und größtenteils vernichtet oder in Reservate für friedfertige indigene Bewohner (wie die Pimos in Arizona, die ihren Grund behalten durften) verbracht hatten.

Gesetzlose Region

Auch Karl May erlag dem Irrtum, dass es vornehmlich weiße Scouts wie seine fiktiven Figuren Sam Hawkens, Will Parker und Dick Stone waren, welche den Indianern an Ortskenntnis ebenbürtig waren und damit zur strategischen Überlegeheit der eingewanderten Amerikaner beitrugen. Vielmehr waren es Halfbreeds, verstoßene Stammesangehörige oder schlicht Abenteurer, die der US-Kavallerie den Weg zeigten und bahnten. In der Zeit des Sezessionskriegs (186165) gerieten die Weißen im Territorium westlich von Texas in die Defensive, da sich die im unionstreuen Kalifor-nien stationierte Armee an den Kampfhandlungen im Osten beteiligen musste.

Die für den Süden optierenden Texaner, die erst ein Dutzend Jahre Teil der USA waren, wollten ihrerseits die Apachengegend in Arizona sowie New Mexico unter ihre Kontrolle bringen. Ihnen traten die kalifornischen Freiwilligen entgegen, welche texanische Abenteurer rund um Hauptmann Hunter zwar aus dem Hauptort Tucson vertreiben konnten, aber nicht ausreichten, um den Schutz der Bewohner zu gewährleisten.

Somit entstanden plötzlich mehrere Interessen, die den Ruf der Region als gesetzlos und lebensgefährlich auf Jahrzehnte festigten. Vom Westen her unternahmen die Freiwilligen vom US-Fort in Yuma Vorstöße, vom Süden her drangen Freischärler ein, die noch im mexikanischen Krieg gegen die USA gedient hatten. Aus Texas zogen sich jene zurück, die auch den Konföderierten nicht zu Gesicht standen oder sich der Justiz entziehen wollten. Und mittendrin standen die Apachenstämme, die Aufwind durch den Abzug der Armee verspürten und alte Rechnungen beglichen. Für Winnetous pazifistische Aktivitäten war hier nur wenig Spielraum.

Literaturhinweise:
John Ross Browne: Abenteuer im Apachenland, Aufbruch ins Ungewisse, Weltbild Verlag, Augsburg 2004

Nur auf Englisch verfügbar:

Paul Andre Hutton: The Apache Wars, 2016
Sam K. Dolan, Cowboys and Gangsters. Stories of an Untamed Southwest, 2016
The Apache Scouts: The History and Legacy of the Native Scouts Used During the Indian Wars, CreateSpace Independent Publishing Platform
 
The Apache Wars: The History and Legacy of the U.S. Army’s Campaigns against the Apaches, Charles River Ed. 2015

Gerhard Strejcek, geboren 1963, ist Außerordentlicher Universitätsprofessor am Institut für Staats- und Verwaltungsrecht an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien,