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Von Bachmann bis Qualtinger

Von Christian Teissl

Reflexionen
Ein bescheidener Ausschnitt aus den Beständen des ÖSV.
© Archiv des ÖSV

Der Österreichische Schriftsteller/innenverband ist seit 1945 ein produktives Forum des literarischen Lebens.


Als unlängst die Nachricht durch die Medien ging, der Österreichische Skiverband, kurz ÖSV, habe beschlossen, seinen Namen in "Ski Austria" abzuändern, wird das wohl nicht überall Begeisterung hervorgerufen haben. In der Wiener Kettenbrückengasse aber war es ein Anlass zur Freude, werkt und wirkt dort doch seit einem halben Jahrhundert ein anderer ÖSV, nämlich der Österreichische Schriftsteller/innenverband. Sein Büro, eine ehemalige Zimmer-Küche-Kabinett-Wohnung, befindet sich - für Uneingeweihte nicht eben leicht zu erkennen - im zweiten Stock des Hauses mit der Nummer 11, einem weitläufigen Eckhaus aus dem Biedermeier, verwinkelt und verwittert, außen grau und schmucklos, im Inneren ein Labyrinth, das seine Überraschungen birgt ...

© ÖSV

Nicht immer hat der Schriftsteller/innenverband hier logiert und er hat, notabene, auch nicht von Anfang an so geheißen wie heute. Seine erste Adresse lautete Seidengasse 3, sein erstes Büro war ein Zimmer im Druckhaus Waldheim-Eberle, das die Redaktion der Tageszeitung "Neues Österreich" ihm abgetreten hatte, und er nannte sich damals noch "Verband demokratischer Schriftsteller und Journalisten Österreichs", kurz VdSJÖ.

Geistiger Neubeginn

Gegründet in der vielbeschworenen "Stunde Null", im Trümmer-Wien des Jahres 1945, auf Anregung des Staatssekretärs für Unterricht und Kunst, Ernst Fischer, war er getragen von Persönlichkeiten, die in ihrer politischen Überzeugung und in ihrer literarischen Praxis manches trennte, eines aber zusammenführte: Sie alle waren Überlebende des Dritten Reiches, ohne ihm Konzessionen gemacht zu haben.

Ein entschiedener Gegner des braunen Regimes, der mehrere Konzentrationslager durchlitten hatte, wurde zum ersten Vorsitzenden des Verbandes gewählt: der aus Graz gebürtige Edwin Rollett. Sein Name ist heute verblasst, seine weitverzweigte, weithin verstreute Publizistik so gut wie vergessen, trotz des schönen Denkmals, das Robert Menasse in seinem Essay über die sozialpartnerschaftliche Ästhetik in der österreichischen Literatur ihm gesetzt hat - ein würdiges Denkmal für einen Antifaschisten.

Rollett war von Jugend an Journalist, ein Rhetor von hohen Graden und Literarhistoriker (und als solcher Mitarbeiter an der berühmten Literaturgeschichte von Nagl-Zeidler-Castle). Er brachte das Kunststück fertig, ein entschiedener Anhänger von Karl Kraus zu sein und dem Journalismus dennoch die Treue zu halten. Viele Jahre gehörte er der Redaktion der "Wiener Zeitung" an - vor 1938 wie nach 1945 - und hat hier, namentlich im Feuilletonteil, bleibende Spuren hinterlassen.

Dem Verband demokratischer Schriftsteller und Journalisten Österreichs hat er in dessen Gründungsphase nach außen hin Geltung verschafft und ihm nach innen die Richtung gewiesen. Seine Devise lautete, vereinfacht gesagt: "Es braucht einen geistigen Neubeginn ohne faule Kompromisse!"

Michael Kehlmann, später als Regisseur tätig, wurde 1946 Mitglied des Schriftstellerverbands.
© Archiv des ÖSV

Rolletts Leitidee, die er mit Männern wie Oskar Maurus Fontana, auch er ein Mitbegründer des Verbandes, teilte, war es, einen "freien Zusammenschluß frei denkender und schaffender Menschen" aufzubauen, also keine Akademie, keinen exklusiven Club und schon gar keine Kammer mit Zwangsmitgliedschaft, sondern etwas, das auf Freiwilligkeit beruht und über eine möglichst breite Basis verfügt.

Man rief die Schreibenden aller Sparten herbei, und sie kamen in Scharen. Innerhalb seines ersten Jahres brachte es der junge Verband, dessen Aktionsradius zunächst noch auf Wien beschränkt blieb - bei der damaligen Aufteilung des Landes in vier Zonen nicht weiter verwunderlich -, auf einen heute unvorstellbaren Mitgliederstand von 1.200, sodass sich manche zweifelnd fragten, ob es denn in Wien überhaupt so viele Schriftsteller gebe.

Allerdings: Das Wort "Schriftsteller" wurde denkbar großzügig ausgelegt. Rollett machte sich bereits bei einer der ersten Generalversammlungen unter seinem Vorsitz dafür stark, "dass der Verband sich nicht auf ausschließlich und im engsten Sinne schriftstellerisch tätige Menschen erstreckt", sondern auch "die freien und losen Mitarbeiter der Zeitungen mit Schreibmaschine oder Kamera umschließt": Vom Fotoreporter bis zur Filmkritikerin, vom Kolumnisten bis zum Feuilletonisten - für sie alle fühlte der Verband sich gleichermaßen zuständig.

Dieses breite Spektrum an Mitgliedern konnte er sich über die Jahre nicht bewahren, die freien Journalisten kamen ihm bald abhanden, doch blieb man auch nach der Umbenennung des Verbandes in "Österreichischer Schriftstellerverband", die im Jänner 1954 erfolgte, der Vielfalt verpflichtet.

Journalisten & Dichter

Das S in ÖSV steht bis heute für Schriftstellerei im weitesten Sinne des Wortes, weit über den Bezirk der Belletristik hinaus, schließt Sachbuchautorinnen und -autoren ebenso ein wie etwa Persönlichkeiten, die im Dienste der Literaturvermittlung stehen, ohne selbst über ein literarisches Werk zu verfügen; und wenn es in den aktuellen Statuten heißt, der Verein bezwecke einen Zusammenschluss qualifizierter österreichischer Schriftsteller:innen und Journalist:innen, so wirkt das wie ein Echo auf die Gründer- und Aufbaujahre des Verbandes, als dessen Geschicke ganz wesentlich von Persönlichkeiten aus der Wiener Journalistik mitbestimmt wurden.

Dem ersten Vorstand etwa gehörten - neben Dichterinnen wie Erika Mitterer und Paula von Preradović oder dem Dramaturgen des Burgtheaters Erhard Buschbeck, der als erster Kassier fungierte - etwa auch der damalige Chefredakteur der "Wiener Zeitung", Ferdinand Reiter, oder der Chefredakteur der "Wiener Bilderwoche", Alfred Zohner, an, und als Edwin Rollett 1951 den Vorsitz zurücklegte, wurde mit Rudolf Holzer abermals jemand aus der Gilde der Journalisten zum Vorsitzenden gewählt. Holzer hatte sich schon in jungen Jahren als Theaterkritiker einen Namen gemacht und war von 1925 bis 1933 Chefredakteur der "Wiener Zeitung" gewesen.

Angesichts dieser engen historischen Verbindungen ist es wohl nicht übertrieben zu behaupten, dass es ohne "WZ" den ÖSV in dieser Form nicht gäbe, und so darf es nicht verwundern, dass den Verband die Entscheidung der österreichischen Bundesregierung, diese Zeitung in ihrer bisherigen gedruckten Form einzustellen, in besonderem Maße trifft und betroffen macht, wird damit doch auch ein Stück seiner Geschichte zu Grabe getragen.

Ferdinand Reiter, vormals WZ-Chefredakteur,  verließ im Guten den VdSJÖ: "Ueberbürdung mit sonstigen Arbeiten" war der Grund.
© Archiv des ÖSV

Was im Blick auf die bewegten Anfangsjahre des Verbandes neben dem starken journalistischen Einschlag auffällt, ist der eminente Anteil an literarischer Jugend. Ingeborg Bachmann und Paul Celan, Milo Dor und Reinhard Federmann, Vera Ferra-Mikura und Christine Busta, Hermann Schreiber und Johannes Mario Simmel, Michael Kehlmann und Helmut Qualtinger, Jörg Mauthe und Friedrich Heer - sie alle wurden damals, meist ohne eine eigenständige Publikation vorweisen zu können, in den Verband aufgenommen.

Manchen von ihnen mochte die Aufnahme eine Ermutigung bedeuten, manchen auch konnte der Verband wertvolle Unterstützung leisten: So etwa, als es darum ging, dem jungen Simmel, der deutscher Staatsbürger war, die österreichische Staatsbürgerschaft zu verschaffen, oder Vera Ferra-Mikura, die zu den großen Nachwuchsbegabungen der Wiener Szene zählte, ein geheiztes Zimmer zum Arbeiten.

Materielle Fragen und Sorgen standen, anders als heute, im Vordergrund der alltäglichen Arbeit. Der Verband war damals im Ansatz das, was später die Interessensgemeinschaft der österreichischen Autorinnen und Autoren wurde: eine Standesvertretung, die sich für die rechtlichen und wirtschaftlichen Interessen der schreibenden Zunft starkmacht und vor allem jenen Schutz und Hilfe zu bieten sucht, die über keinen prominenten Namen verfügen und dadurch den Mechanismen des Marktes auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind.

"Es war nicht immer leicht", notierte Rollett später, aus dem Abstand eines Jahrzehnts. "Wer macht einem Autor klar, dass ein von ihm ganz und gar verhauter Verlagsvertrag - und deren gab es sehr viele - nicht durch den Schriftstellerverband annulliert werden könne? Dann wieder die Beschwerden über zu geringe Honorare bei Zeitschriften. Aber wenn man eine Intervention versprach, hieß es: ‚Nennen Sie, um Gottes willen, meinen Namen nicht, sonst bringe ich dort gar nichts mehr an.‘ Wir hätten Wunder wirken sollen und wurden schwer getadelt, weil wir es nicht konnten."

Wunder wirken, das kann der Österreichische Schriftsteller/innenverband heute so wenig wie damals. Es liegt nicht im Bereich seiner Möglichkeiten, jemanden "durchzusetzen" oder zu propagieren, ein noch unveröffentlichtes Manuskript an einen Verlag zu vermitteln wie eine Agentur. Er ist keine Talentebörse und erst recht keine Instanz, die über literarische Karrieren entscheidet.

Seine Aufgabe besteht im Wesentlichen darin, Entstehendes zu fördern, auf Übersehenes hinzuweisen und an die Vergessenen zu erinnern. Ihr widmet er sich vor allem durch seine Halbjahresschrift "Literarisches Österreich", die anno 1975 als bescheidenes Mitteilungsblatt begonnen und sich unter der Ägide von Sidonia Gall und Marianne Gruber zu einem literarischen Periodikum im Vollsinn des Wortes entwickelt hat. Hier findet man Ausgabe für Ausgabe Rezensionen, Werkproben und Würdigungen, hier treten Autorinnen und Autoren miteinander in Korrespondenz, nehmen einander wahr, reagieren auf die Arbeit der anderen - ein Ort der Begegnung, des literarischen Gesprächs, das zum Kontinuum unserer Literatur seinen Beitrag leistet.

Kreative Atmosphäre

Die Geschichte einer Vereinigung wie dem ÖSV, die selber Teil dieses Kontinuums ist, lässt sich mit den Kategorien von "Erfolg" oder "Misserfolg" nicht erfassen. Manche Forderung der Gründerjahre - etwa im Sinne der Interessen der schreibenden Zunft - wurde inzwischen erfüllt, manches ist nach wie vor offen oder droht wieder verloren zu gehen, und manches Übel hat sich als zeitlos erwiesen und beschäftigt uns daher auch heute. Wie etwa die notorische Geringschätzung geistiger Arbeit und der schlampige Umgang mit Talenten, den Edwin Rollett 1947 scharfsichtig anzuprangern wusste: "Da Begabungen in reichem Maße vorhanden sind und da die ganze Atmosphäre unserer Heimat mit einem unverkennbaren musischen Beisatz erfüllt ist, betrachtet man die Produktivität als etwas Selbstverständliches und billigt ihr nur sehr niedrigen Kurswert zu."

Dafür Sorge zu tragen, dass die österreichische Atmosphäre "ihren musischen Beisatz" behält und hierzulande immer wieder aufs Neue ein Klima geschaffen wird, das schöpferische Produktivität ermöglicht, ist ein geistiger Auftrag, dem sich der Verband, ungeachtet aller Kurswerte und Konjunkturen, auch weiterhin verpflichtet weiß.

Christian Teissl, geboren 1979, lebt als Schriftsteller in Graz und ist seit 2021 Vorsitzender des ÖSV (https://www.oesv.or.at).