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Von Bonner zu Berliner Republik

Von Franz Nickel, Berlin

Politik

Auch wenn man mit dem Begriff "historisch" recht sparsam umgeht · ein Hauch von Geschichte weht diese letzte Novemberwoche in Berlin: Zum ersten Mal seit Bestehen der deutschen Bundesrepublik | tagte das Kabinett in Berlin, und das Bundespräsidialamt nahm als erstes Verfassungsorgan und als erste Bundesbehörde, die komplett aus Bonn umgezogen ist, mit 150 Mitarbeitern die Tätigkeit in der | Hauptstadt auf.


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Mit dem Einzug von Gerhard Schröder (SPD) in den Berliner Amtssitz des Bundeskanzleramtes wird deutlich der Wechsel von der "Bonner" zur "Berliner Republik" markiert. Das umsomehr, als Kanzler und

Kabinett im ehemaligen DDR-Staatsratsgebäude am Schloßplatz 1 in Berlin Mitte ihren vorübergehenden Amtssitz haben.

Das Kabinett tagte im 251 Quadratmeter großen ehemaligen Diplomatensaal im ersten Stockwerk des Staatsratsgebäudes, wo Honecker früher von den ausländischen Botschaftern die Beglaubigungsschreiben

entgegennahm. Der riesige Holztisch stammt aus dem Lager des Gebäudes, die 21 Sessel aus dem Bonner Palais Schaumburg.

Kanzler Schröder arbeitet im Zimmer 102; 111 Quadratmeter groß, direkt neben dem Kabinettssaal. Fenster geben den Blick frei auf den Schloßplatz und den "Palast der Republik". Honeckers Arbeitszimmer

dient jetzt als Foyer für den Sitzungssaal. Im ehemaligen Staatsratsgebäude wurden bisher 16 Räume renoviert. Dieser Platz für 66 Mitarbeiter reicht dem Kanzler für den Übergang bis zur

Fertigstellung des Kanzleramtes am neuen Regierungsviertel im Herbst 2000 nicht aus. Bis dahin benötigt er weitere 300 Mitarbeiter, die im Frühjahr in 60 Räumen im Umfeld des Staatsratshauses

angesiedelt werden. Mindestens einmal monatlich will Kanzler Schröder, der den "Aufbau Ost" wie sein Vorgänger Kohl zur Chefsache erklärt hat, hier Kabinettssitzungen abhalten: "Diesem Haus tut es

gut, wenn eine demokratisch gewählte Regierung drin ist".

Positiv ist auch der Inhalt der ersten Regierungssitzung in der Hauptstadt anzumerken. Das vor der Wahl versprochene Sofortprogramm gegen die Jugendarbeitslosigkeit, mit dem 100.000 zusätzliche

Lehrstellen und Arbeitsplätze geschaffen werden sollen, wurde beschlossen.

Von einem "Sofortprogramm" beim Einzug von Regierung und Parlament kann indes nicht die Rede sein. Neben den Verzögerungen beim Kanzleramt und damit zusammenhängenden 40 Millionen Kostensteigerung

werden auch die beiden Häuser des Auswärtigen Amtes erst bis November 1999 fertig. Für Außenminister Joschka Fischer wird Honeckers ehemaliges Arbeitszimmer im ZK der SED hergerichtet. Er sitzt dann

buchstäblich auf Geld, denn in diesem ehemaligen Gebäude der Reichsbank lagern in den dreigeschossigen unterirdischen, von Wassergräben umgebenen Tresoranlagen Abermillionen DM, von denen die Banken

in der Region Berlin/Brandenburg mit frischem Geld versorgt werden.

Außer beim Innenministerium und Verkehrsministerium ergeben sich bei allen anderen Ressorts Verzögerungen, trotzdem soll die volle Arbeitsfähigkeit ab Herbst 99 hergestellt sein. Insgesamt ziehen,

sieben Ministerien nach Berlin, sechs bleiben in Bonn. Der Bundestag kann seine Arbeit nach der Sommerpause 1999 im umgebauten Reichstag aufnehmen. Dort wird am 23. Mai der nächste Bundespräsident

gewählt.