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Von der Diktatur zum Gottesstaat?

Von Michael Schmölzer

Analysen

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Tunesien gilt in der arabischen Welt als Stimmungsbarometer. Hier hat der demokratische Umbruch seinen Ausgang genommen, hier haben nach Beseitigung der Diktatur die ersten Wahlen stattgefunden - und hier haben die Islamisten der Ennadah-Partei mit Abstand die meisten Stimmen bekommen.

Andere Länder folgen dem Trend. Die Ägypter werden am 28. November wählen, und die Islamisten haben allen Prognosen zufolge die Nase vorn. Die ägyptischen Muslimbrüder waren wie die Ennadah während der Diktatur verboten. Die Gruppierung hat jetzt die beste Organisation, ist durch jahrzehntelange Kämpfe gegen die Diktatur gestählt und hat den größten Rückhalt in der Bevölkerung. Prognosen sprechen davon, dass die Muslimbrüder bei den Wahlen 40 bis 55 Prozent der Stimmen erreichen könnten. Marokko schlägt eine ähnliche Richtung ein. Dort wird am 25. November gewählt, eine gemäßigt islamistische Partei hat beste Chancen auf den Wahlsieg. Und in Libyen, das hat der Nationale Übergangsrat wiederholt klargemacht, wird es in Zukunft kein Gesetz geben, das der Scharia, dem islamischen Recht, widerspricht.

Im Westen stellt man sich nun die bange Frage, ob den nordafrikanischen Diktaturen fundamentalistisch-islamistische Regime folgen, ob gestrenge Sittenwächter und Burka tragende Frauen bald das Stadtbild von Tunis, Kairo, Tripolis und Casablanca prägen werden.

Tunesien droht ein derartiges Schicksal vorläufig nicht. Die Ennadah setzt auf Ausgleich, will die von ihr geführte neue Regierung auf eine möglichst breite Basis stellen und zwei säkulare Parteien mit ins Boot holen. Die Islamisten haben die türkische Regierungspartei AKP zum Vorbild erkoren, an bürgerlichen Freiheiten soll nicht gerüttelt werden. Die schrittweise Errichtung eines grimmigen Gottesstaates würden sich die Tunesier auch gar nicht gefallen lassen. Und so ist nicht auszuschließen, dass die tunesische Ennadah zum Modell einer erfolgreichen moderat-islamischen Partei wird, die Demokratie und gesellschaftlichen Pluralismus respektiert und im arabischen Raum Nachahmer findet - etwa bei den ägyptischen Muslimbrüdern. Dort regiert eine grimmige alte Garde, die einen islamischen Staat und Scharia-Strafen will und deren Gefährlichkeit nicht zu unterschätzen ist.

Die jüngere Generation ägyptischer Islamisten, die auf dem Tahrir-Platz demonstriert hat, ist aber an Zuständen wie in Saudi-Arabien nicht interessiert und orientiert sich lieber an Tunesien. Es gibt Richtungskämpfe bei den Muslimbrüdern - und es scheint möglich, dass sich die Progressiven einfach abspalten.