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Von der Fehl- zur Idealbesetzung

Von Gerhard Lechner

Politik

Wolodymyr Selenskyj war lange umstritten. Heute ist der ukrainische Präsident ein Symbol des Widerstands.


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Lange hatte es so ausgesehen, als wäre der ehemalige Schauspieler Wolodymyr Selenskyj als ukrainischer Präsident eine Fehlbesetzung. Zwar war der heute 44-jährige Ex-Komiker 2019 mit großen Hoffnungen und einem Rating von über 70 Prozent ins Amt gestartet. Auch gelang es ihm in Windeseile, eine Partei aus dem Boden zu stampfen, die dann auch prompt die Parlamentswahl mit absoluter Mehrheit gewann. Er versuchte mit Nachdruck, sein Hauptwahlversprechen - eine Beendigung des Krieges im Donbass - umzusetzen. Waffenstillstandsabkommen wurden vereinbart, die zumindest ein paar Monate hielten. Kurz schien es so, als könnte es Selenskyj gelingen, die ererbte Misswirtschaft zu überwinden.

Doch die Hoffnung währte nicht allzu lange. Bald schon wurde klar, dass auch Selenskyj die endemische Korruption nicht energisch genug bekämpfte. Die Art, wie der jugendlich wirkende Präsident das Land regierte, wirkte allzu sprunghaft: Immer wieder wechselte Selenskyj sein Personal aus, aus früheren engen Weggefährten wie seinem Ex-Parteichef Dmytro Rasumkow wurden politische Gegner. Der Regierungsstil des Quereinsteigers wirkte ebenso populistisch wie der von Wassili Holoborodko, jenes TV-Präsidenten, den Selenskyj in seiner Fernsehserie "Diener des Volkes" spielte.

Sprunghaftigkeit wird zu Frische

Wie in der Serie, so wurden auch in Selenskyjs Präsidentenbüro Entscheidungen oft aus dem Bauch heraus getroffen, an den rechtmäßigen Institutionen vorbei. So verfügte etwa noch vor dem Krieg der ukrainische Sicherheitsrat - ein Beratungsgremium, das dem Präsidenten unterstellt ist - die Schließung russlandfreundlicher Nachrichtensender. Weniger dieser Schritt verstörte Beobachter als der Umstand, dass dies ohne Gerichtsbeschluss geschah. Und während liberale Politikbeobachter sich an Selenskyjs Populismus stießen, ging die Zustimmung im Volk aufgrund versäumter Reformen und externer Ereignisse wie Corona kontinuierlich zurück: Ende vergangenen Jahres erreichten Selenskyjs Beliebtheitswerte, die auf 20 Prozent zusteuerten, ihren Tiefpunkt.

Doch all das ist mittlerweile Schnee von gestern. Der Krieg, den Russlands Präsident Wladimir Putin gegen die Ukraine vom Zaun brach, schuf eine völlig neue Lage. Aus dem sprunghaften Komiker, dem Dilettanten im Präsidentenamt, der die rasch zusammengetrommelten Amateur-Abgeordneten seiner neu gegründeten Partei auf ein mehrtägiges Ausbildungslager schickte, um Politik zu lernen, ist eine Art Weltstar geworden. Was früher als Sprunghaftigkeit und Unprofessionalität bei Selenskyj kritisiert wurde, erweist sich heute als Flexibilität und jugendliche Frische, die den ukrainischen Präsidenten wohltuend von seinem russischen Gegenüber abhebt.

Wie immer der Krieg in der Ukraine auch endet - den Kampf um die Gunst der Öffentlichkeit hat Putin bereits verloren: Während der völlig unbedrängte starke Mann im Kreml sich zunehmend verschanzt und mit seinen Untergebenen aus weiter Entfernung an überlangen Tischen kommuniziert, setzt Selenskyj auf moderne Kommunikation über Twitter, Facebook, Instagram und TikTok. Immer wieder meldete sich der Präsident, der Ziel russischer Todesschwadronen ist, nach Kriegsbeginn aus unterschiedlichen Orten in Kiew mit oder ohne seinem Regierungsteam. Stets betonte er, dass er "hier" sei und bleiben werde. Als ihm seitens der USA angeboten wurde, ihn aus Kiew auszufliegen, antwortete er, er brauche keine Mitfahrgelegenheit, sondern Munition.

Dieser Mut in bedrängter Lage war es, der auch vielen Ukrainern, die von dem Angriff geschockt waren, den Willen zum Durchhalten gab. Die Beliebtheitswerte Selenskyjs liegen heute bei stolzen 91 Prozent. Und ganze 93 Prozent der Ukrainer glauben, dass die Ukraine den Krieg gegen das scheinbar übermächtige Russland gewinnen wird.

Selenskyjs Atout in dem Info-Krieg mit Putin ist - man kann es nur schwer anders ausdrücken - seine Menschlichkeit. Während dem Kreml-Chef, einem ausgebildeten Geheimdienstler, stets etwas Unnahbares anhaftete, verkörpert Selenskyj die personifizierte Nahbarkeit. Der Schauspieler wirkte stets wie der nette Kerl von nebenan, mit dem man gerne scherzt und auf ein Bier geht. In dem Interview, das die "Wiener Zeitung" mit ihm im September 2020 per Skype führte, präsentierte er sich nicht im staatsmännischen Anzug mit Krawatte, sondern alltagstauglich im weißen T-Shirt. Selenskyj verhielt sich nicht wie ein Politiker, der widerwillig einen Termin abarbeiten muss, sondern wie ein aufrichtig interessierter Gesprächspartner.

Schock ebbt langsam ab

Es ist diese Alltagstauglichkeit, die Selenskyj in Kriegszeiten, einer emotionalen Ausnahmesituation, populärer denn je macht - auch im Ausland: Der ukrainische Präsident hat mittlerweile per Video im US-Kongress, der israelischen Knesset oder dem deutschen Bundestag gesprochen. Nicht immer traf er dabei den richtigen Ton: Indem Selenskyj - selbst ein Jude, der Verwandte im Holocaust verloren hat - den russischen Angriff in der Knesset mit dem deutschen Völkermord an den europäischen Juden verglich, hat er seinem Ziel, Waffen aus Israel geliefert zu bekommen, eher geschadet. Auch Selenskyjs Aufforderung an die Nato, eine Flugverbotszone über der Ukraine einzurichten, sehen manche als ein gefährliches Zündeln an der Weltkriegslunte an. Dennoch fällt die Kommunikation des ukrainischen Präsidenten auch im Westen auf fruchtbaren Boden, wird sein Mut bewundert.

Die Frage ist nur, wie lange noch: Denn nach einem Monat Krieg ebbt der Schock über den russischen Angriff auf die Ukraine im Westen langsam ab. Die Sanktionen, die gegen Moskau verhängt wurden, haben bereits jetzt unliebsame Auswirkungen wie einen erhöhten Benzinpreis. Schlimmeres könnte folgen, und es ist durchaus möglich, dass die Bereitschaft der Wohlstandsgesellschaften des Westens, für die Ukraine wirtschaftliche Einbußen hinzunehmen, Grenzen hat.

Videos aus dem Bunker

Dazu nutzt sich auch der Krieg wie jedes Thema in der Öffentlichkeit ab. Es wird nicht leicht für Selenskyj, mit seinen Botschaften durchzudringen. Zumal der ukrainische Staatschef ja auch persönlich gefährdet ist: Seine letzten beiden Videobotschaften hat er in seinem Bunker in Kiew aufgenommen. Für den österreichischen Bundesheer-Oberst Markus Reisner ist das ein Zeichen, dass die Situation in Kiew so gefährlich geworden sei, dass Selenskyj kaum noch ins Freie gehen könne. Dort würden russische Drohnen kreisen. Der rasche "Enthauptungsschlag", den Russland anfangs gegen die Ukraine geplant hat, könnte doch noch Wirklichkeit werden.

Was aber würde passieren, wenn Selenskyj den Russen in die Hände fällt oder gar getötet wird? Bräche dann der ukrainische Widerstand jäh in sich zusammen? Wahrscheinlich nicht, da die Ukraine über eine Tradition im Partisanenkampf verfügt und diesen wohl länger durchhalten könnte als Putin. Aber Selenskyj ist in der Tat zu einem derart starken Symbol des ukrainischen Widerstands geworden, dass sein Tod einen schweren Schlag für die Verteidiger bedeuten würde. Außerdem wäre das Land kurzzeitig führungslos - wer Selenskyj nachfolgen könnte, ist nicht geklärt, zumal auch der Rest der Regierung gefährdet ist.

Schon gibt es deshalb Aufrufe an Selenskyj, er solle für den Fall des Falles einen Nachfolger benennen. Geschehen ist das bis jetzt nicht. Was den Ukrainern bleibt, ist die Hoffnung, dass das Schlimmste nicht eintritt - und die russischen Truppen zurückgedrängt werden.