Vor 50 Jahren haben wir gerade noch Glück gehabt - aber in der Kuba-Krise wurde ein Mythos geboren, der noch heute tückisch nachwirkt.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 12 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Die Menschheit feiert dieser Tage ihren 50. "zweiten Geburtstag". Das ist bekanntlich eine übliche Floskel, wenn jemand dem Tod gerade noch von der Schaufel gesprungen ist, und das kann man bei der Kuba-Krise mit Fug und Recht behaupten.
Dabei ist allerdings anzumerken, dass die permanente Atomwaffendrohung die Welt des Öfteren an den Rand ihrer Vernichtung brachte, wenn auch selten so knapp wie 1962 in den karibischen Gewässern. Aber etliche Fehlermeldungen elektronischer Art oder Fehlinterpretationen der Absichten des Gegenübers sorgten auch noch in der Spätphase des Kalten Krieges für das Wandeln am Abgrund - etwa im November 1983, als das Nato-Herbstmanöver "Able Archer" den Warschauer Pakt in höchste Alarmbereitschaft versetzte, der gefährlichste Moment seit der Kuba-Krise, wie Historiker urteilen.
Bei der Preisung jenes Glücks, das wir am "schwarzen Samstag" vor 50 Jahren hatten, wurde wieder einmal nur in bescheidenem Ausmaß in Betracht gezogen, dass die Eskalation nicht einfach einem grundlos wild gewordenen Russen namens Nikita Chruschtschow zugeschrieben werden kann. Schließlich waren erst im Sommer 1962 Nato-Raketen in der Türkei einsatzbereit gemacht worden, die eine ähnliche Reichweite hatten wie jene, die auf Kuba platziert wurden. Und der vielgerühmte US-Präsident John F. Kennedy war mit den "Falken" unter seinen militärischen Beratern keineswegs immer so uneins wie in diesem Fall. Dies zeigt der von ihm genehmigte Versuch einer Kuba-Invasion 1961, der zweite Grund für Chruschtschows Stationierungspläne, ebenso wie die von ihm angeordnete Militarisierung Südvietnams und die Entsendung von tausenden "Militärberatern" nach Südostasien.
Die Tatsache, dass auch Kennedy einen Kompromiss eingehen musste (die Raketen in der Türkei wurden 1963 abgezogen und die Garantie abgegeben, keine Kuba-Invasion zu unternehmen), blieb allerdings jahrzehntelang verschleiert. Damit entstand der Mythos eines Showdowns, den der damalige US-Außenminister Dean Rusk mit den Worten beschrieb: "Wir stehen Aug’ in Auge, und ich glaube, der andere Bursche hat gerade geblinzelt."
Rusk selbst blieb bei seiner Ansicht, man müsse dem Gegner lediglich mit Härte entgegentreten, um ihn zum Einlenken zu zwingen, und setzte diese Strategie unter Kennedy-Nachfolger Lyndon B. Johnson im Vietnam-Krieg um. Der Historiker Rolf Steininger wies kürzlich (in der "Wiener Zeitung") auf diese Folge der Kuba-Krise hin und stimmt darin mit dem Autor Michael Dobbs (in der "New York Times") überein. Der Mythos wirkte aber noch länger fort: Dobbs ortet ihn auch bei George W. Bush, der sich 2002 auf Kennedy berief, um seinen Präventivkrieg gegen den Irak zu rechtfertigen - und bei Israels Premier Benjamin Netanyahu, der vor der UNO das Ziehen einer "roten Linie" gegenüber dem Iran forderte, so wie Kennedy "eine rote Linie während der Kuba-Krise" markiert habe.
Die damaligen Ereignisse unterstreichen indes nicht nur die Gefährlichkeit, die von (allen) Atomwaffen ausgeht, sondern auch diejenige von "roten Linien".