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Von der Pfarrerstochter zur RAF-Terroristin

Von Matthias Geist

Gastkommentare
Matthias Geist ist evangelischer Superintendent von Wien. Er war er Gefängnisseelsorger und Lehrbeauftragter an der Strafvollzugsakademie.
© Evangelische Kirche/Marco Uschmann

Gudrun Ensslin wäre am 15. August 80 Jahre alt geworden.


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Ende der 1960er kippt in der BRD die politische Stimmung. Schon die "Bewegung 2. Juni" führt nach der Ermordung Benno Ohnesorgs 1967 die politische Linke in zielgerichtete Gewaltbereitschaft. Intellektuelle begeben sich in den Untergrund, versuchen den Staat von Grund auf zu erschüttern und lassen sich in militärischen Camps in Nahost ausbilden. Das Aufzeigen fehlerhafter Entwicklungen im Nachkriegsdeutschland wird zum erklärten Ziel der ersten Generation der "Roten Armee Fraktion" (RAF). Einzelne Anschläge auf Medien (Springer-Verlag) und Wirtschaft (Kaufhausbrände) werden verübt. Unter den Täterinnen ist die evangelische Pfarrerstochter Gudrun Ensslin, geboren am 15. August 1940. Das Scheitern der Flugzeugentführung der "Landshut" in Mogadischu ist letzter Grund ihres Suizids. In der Todesnacht von Stammheim nimmt sie sich - mit Andreas Baader und Jan Carl Raspe - das Leben und begräbt damit ihr Anliegen selbst. Ihr Tod besiegelt das Ende des "Deutschen Herbsts" 1977.

Nach begonnenem Sprachenstudium sattelt Ensslin um und legt das Examen als Volksschullehrerin ab. Doch persönliche Beziehungen, etwa zum Studentenführer Rudi Dutschke, der Pate ihres Sohnes wird, sensibilisieren sie. Letztlich sind Begegnungen im Umfeld der Baader-Meinhof-Bande prägend. Sie fördern den Einstieg in die Radikalität der RAF, die der Ignoranz und Arroganz eines politischen Systems bis aufs Blut Paroli bieten wird. Die unaufgearbeitete Nazi-Vergangenheit reicht bis in höchste Kreise der Politik und Wirtschaft. Der ausbeuterische Aufschwung der Nachkriegsjahrzehnte wird mit Argumenten und letztlich mit Waffengewalt bekämpft. Die Diagnosen stimmen und schüren die Entschlossenheit. Die Aktionen versteigen sich in unmenschliche Tragödien.

Der ausartende, blindwütige RAF-Terror lässt nach Motiven fragen. Im Falle Ensslins ist ihre religiöse Sozialisation zu beachten. Das evangelische Pfarrhaus prägt seit jeher als Instanz von Gewissen und Zivilcourage ein besonderes soziales Empfinden. In theologischer Verantwortung wird keine Rücksicht auf diplomatische Räson genommen. Ensslin verkörpert, was sich damals viele wünschen: Gerechtigkeit und Freiheit von gesellschaftlichen Zwängen. Sie begibt sich in die Kriminalität, geht über Leichen und setzt sich gerichtlicher Verfolgung und Selbstjustiz aus.

Am 15. August wäre sie 80 Jahre alt geworden. Wäre sie noch am Leben, wie verhielte sie sich seit der vermutlich jahrzehntelangen Gefangenschaft? Reue wie bei Peter-Jürgen Boock, die Ablehnung des Begriffs wie bei Christian Klar oder auch soziale Berufe wie bei einigen Täterinnen sind denkbar. Ihre klare Geisteshaltung gaben die RAF-Täter selten auf. Die protestantischen Wurzeln konnten auch Ensslin in sozialer Verantwortung zu konkreten Taten motivieren. Ihr Vater Helmut Ensslin meinte nach den Kaufhausbränden noch, es wäre "eine ganz heilige Selbstverwirklichung im Sinne des heiligen Menschentums".

Doch es blieb nicht bei gewaltlosem Widerstand. Jene Gesinnung, die sich auf inhumane Weise radikalisiert und in ihren Aktionen Menschenleben aufs Spiel setzt, wird selbst zum Opfer ihrer Anliegen. Der Preis für die nötige politische Forderung war für beide Seiten eindeutig zu hoch und schmerzt bis heute.