Zum Hauptinhalt springen

Von der Revolution zur Resignation

Von Michael Schmölzer

Politik

Die Dekade nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Diktaturen hat in den Gesellschaften Mittel- und Osteuropas Pessimismus und Enttäuschung hinterlassen, so das Ergebnis einer Studie der Politologen Peter Ulram und Fritz Plasser, die anlässlich eines Kongresses in Frankfurt an der Oder präsentiert wurde. Trotz dieser in allen Reformstaaten feststellbaren Ernüchterung befinden sich aber die Befürworter einer Einparteiendiktatur weiterhin in der Minderheit, lautet die ermutigende Nachricht des Forscherteams.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 25 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Am Beginn herrschte Hoffnung und Optimismus, eine Art Aufbruchsstimmung und politisches Engagement in den Ländern des ehemaligen Ostblocks. Diese Stimmung gibt es heute, zehn Jahre später, kaum noch. Stattdessen regieren Enttäuschung und Pessimismus, Resignation und Abkehr von der Politik: Zu diesem Schluss kommt eine vom österreichischen Politologenteam Ulram/Plasser durchgeführte Studie, die vier Länder des ehemaligen Ostblocks, Tschechien, Slowakei, Ungarn und Polen in vergleichender Hinsicht unter die Lupe nimmt: Der Widerwille gegen die herrschenden politischen Umstände ist groß, aber nicht so intensiv, dass sich die Mehrheit der Bevölkerungen die Zeiten der vergangenen KP-Diktatur zurückwünschen oder eine sonstige Einparteienherrschaft bevorzugen würden, kann die Studie beruhigen.

Der Wandel in den Staaten des ehemaligen Ostblocks vollzog sich allerdings keineswegs einheitlich und so fallen auch die empirischen Befunde des österreichischen Forscherduos differenziert aus. In Ländern wie Polen, wo die antikommunistische Gewerkschaftsbewegung "Solidarnosc" unter Lech Walesa graduell in die Entscheidungsprozesse integriert wurde, und Ungarn, wo die Repressionen des Regimes vergleichsweise gemäßigt waren, wurde der Umschwung eher von "oben" und unter geringerer Anteilnahme der Bevölkerung eingeleitet.

Im Fall der CSFR dagegen, wo die KP unter Miloš Jakeš bis zuletzt mit eiserner Faust regierte, wurde die Welt Zeuge einer einzigartigen, alle Landesteile und sozialen Schichten umfassenden Volksbewegung. Am Weg, den Tschechien seit dem Jänner 1989 eingeschlagen hat, wird aus diesem Grund die Entwicklung von einer euphorisch begonnenen Revolution hin zu Resignation und Stillstand am eindrucksvollsten sichtbar.

Gewaltverzicht

Der gewaltlose Widerstand hatte eine lange Tradition in der CSFR und formierte sich zunächst rund um symbolträchtige Namen und Ereignisse. Das Regime antwortete jedoch regelmäßig mit Gewalt und Gummiknüppeln. Der Volksaufstand des Jahres 1989 war in allen Phasen friedlich und bestrebt, auch die Obrigkeit zu Gewaltverzicht zu zwingen.

Ermöglicht wurden die Umwälzungen durch das neutrale Verhalten der russischen Streitkräfte und Gorbatschows Befürwortung einer politischen Veränderung. Am wichtigsten für die folgenschweren Ereignisse war allerdings, dass die Tschechen in Vaclav Havel eine moralisch über alle Zweifel erhabene Autorität als Integrationsfigur, einen "Mann der ersten Stunde" hatten.

Der Aufstand begann zunächst klein und weitete sich in der Folge einem Schneeball ähnlich immer weiter aus:

Chronologie der Ereignisse

Am 15. Jänner 1989 gedachten 2000 Menschen auf dem Wenzelsplatz in Prag des Demokratiekämpfers Jan Palach, der sich hier 20 Jahre früher selbst verbrannt hatte. Er wollte damit gegen die Vergewaltigung seines Landes protestieren, die ein Jahr nach dem gewaltsam von der russischen Armee beendeten "Prager Frühling" international wieder in Vergessenheit geriet. Die Polizei zerschlug die Gedenkfeier.

Am 21. August 1989, dem 21. Jahrestag der Invasion der Warschauer Pakt-Truppen gegen Alexander Dubceks "Kommunismus mit einem menschlichen Antlitz" kam es erneut zu Demonstrationen. Trotz Demonstrationsverbots kamen 3.000 Demonstranten auf den Wenzelsplatz, hunderte wurden von der Polizei niedergeprügelt, 370 ins Gefängnis geworfen.

Doch je brutaler die Polizei vorging, desto weniger ließ die Opposition sich einschüchtern: Ab dem 21. August wurden die Demonstrationen immer größer und widerstandsfähiger. am 29. Oktober demonstrierten 15.000 in Prag, am 17. November 50.000, am 20. November eine Viertelmillion. Diese Demonstrationen waren fast ausschließlich antikommunistisch.

Am 17. November versammelten sich zunächst 18.000 Studenten vor der medizinischen Fakultät der Universität, um des Studenten Jan Opletal zu gedenken, der am gleichen Tag des Jahres 1939 von der Gestapo ermordet worden war. Seine Ermordung hatte damals antideutsche Demonstrationen ausgelöst, die brutalst niedergewalzt wurden.

Die Studenten trugen Banner mit Karikaturen des KP-Chefs Jakeš in Nazi-Uniform. Die Demonstranten zogen zuerst zum Grab Opletals und dann durch die Prager Narodny-Straße zum Wenzelsplatz. Mittlerweile war der Zug auf 50.000 Demonstranten angewachsen, unter ihnen auch viele Arbeiter.

Sondereinheiten der Polizei griffen ein. Am nächsten Tag berichtete die Parteizeitung "Rude Pravo", dass die Polizei mehrmals eingesetzt wurde, um im Stadtzentrum für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Tatsächlich war es einer der brutalsten Polizeieinsätze überhaupt. Das Fernsehen hatte zwar gefilmt, die Berichte durften aber nicht ausgestrahlt werden. Dann hieß es, die Polizei hätte einen Demonstranten totgeschlagen. "Radio Free Europe" und "Voice of America" zitierten Augenzeugen des Mordes. Das Opfer wurde als Martin Schmid, Student der Mathematik identifiziert.

Die Opposition erklärte diese Meldung als falsch, später stellte sich heraus, dass das angebliche Opfer ein russischer Agent war, der den Auftrag hatte, den Umsturz zu beschleunigen. Die Spannung stieg von Stunde zu Stunde und entlud sich am 20. November in einem Aufmarsch von 250.000 Demonstranten, die jetzt zum ersten Mal den Verzicht der kommunistischen Partei auf ihr verfassungsmäßiges Machtmonopol forderte. Das Regime sah sich einer über das ganze Land reichenden Oppositionsbewegung gegenüber, die nicht organisiert war und nur aus losen Gruppierungen bestand, die in loser Verbindung untereinander agierten, aber vom Inhalt ihrer Aussagen her das gleiche forderten: Machtverzicht der kommunistischen Partei.

1,5 Millionen Demonstranten

Und die stattfindende Mobilisierung war in der Tat enorm: Zwischen dem 17. und 21. November hatten sich in Böhmen, Mähren und der Slowakei rund eineinhalb Millionen Menschen den Demonstrationszügen angeschlossen. Darunter waren ganze Belegschaften großer Industriezentren.

Ab diesem Zeitpunkt war die Revolution auch eine Revolution der Arbeiter. Sämtliche Restaurationsversuche der tschechoslowakischen KP unter Jakes spielten keine Rolle mehr, als am 27. November ein Generalstreik die ganze CSSR erfasste. Er dauerte nur wenige Stunden, aber die Streikdisziplin ließ erkennen, dass hier ein revolutionäres Massenaufgebot entstanden war, an dessen Widerstand jede Selbsterhaltungstaktik der Kommunistischen Partei scheitern musste.

Am 29. November 1989 strich das CSSR-Parlament den Führungsanspruch der Kommunistischen Partei aus der Nationalverfassung.

Aufbruchstimmung

Schon im Zuge dieser revolutionären Umwälzungen versuchten Sozialwissenschafter, die Stimmung unter der Bevölkerung über Umfragen und in der nüchternen Sprache der Statistik zu veranschaulichen: Bereits kurz nach den Massenaufständen veröffentlichte ein tschechisches Forscherteam der "Gruppe für unabhängige Sozialanalyse", bestehend aus Marek Boguszak, Ivan Gabal und Vladimir Rak, in der "Washington Post" einschlägige Untersuchungsergebnisse. Die Studie wollte vor allem ergründen, wie es nach 41 Jahren kommunistischer Diktatur um das Demokratiebewusstsein in der Bevölkerung bestellt war.

Das Ergebnis der Studie zeigt eine informierte, engagierte Zivilgesellschaft, die aktiv am Aufbau einer demokratischen Gesellschaft mitwirken möchte. Wie sehr die Menschen den demokratischen Aufbruch begrüßten, wird schon daraus ersichtlich, dass im Februar 1990 86 Prozent der Staatsbürger hinter der Revolution standen: Sie wollten keine oberflächlichen Reformen, wie die Entfernung einiger KP-Würdenträger, sondern die grundlegende Umwandlung des politischen Systems. Das große Mobilisierungspotential der Geschehnisse vom November des Vorjahres zeigt sich daran, dass 38 Prozent der Befragten gewillt waren, öffentliche Ämter zu übernehmen. 90 Prozent wären bereit gewesen, jeder Drohung eines Rückfalls in das kommunistische System durch Maßnahmen wie Generalstreik entgegenzutreten. Im Februar 1990 hatte die KP 1,7 Millionen ihrer Mitglieder verloren, vor allem die jüngere Bevölkerung kehrte der ehemaligen Einheitspartei den Rücken. Die KP gewählt hätten zu diesem Zeitpunkt nur noch acht Prozent.

Was vor dem Hintergrund der heutigen politischen Situation in Tschechien von Bedeutung erscheint, dass in den Umfrageergebnissen eine deutlich Angst vor dem Entstehen neuer, dominierender Großparteien mitschwang. Die Mehrheit der Befragten wollten nicht nur das Verschwinden einer starken KP, auch die Organisatoren des Aufstandes ´89, die "Öffentlichkeit gegen Gewalt" und das "Bürgerforum" sollten nicht zu stark werden. Dieses Ergebnis hatte laut Studienautoren mit einer weitverbreiteten Abneigung gegen Funktionärsmacht überhaupt zu tun. Nur 25 Prozent der damals Befragten favorisierten ein Mehrparteiensystem mit einer Koalition aus Grossparteien. Zwei Drittel der wollten mehr Macht für die Gemeinden und einzelnen Regionen und weniger Einfluss der Zentralregierung.

Resignation

Zehn Jahre später ist von der anfänglichen Begeisterung und Engagementbereitschaft nicht mehr viel übrig, so die ernüchternde Erkenntnis der Ulram/Plasser-Studie.

Besonders krass tritt dieser Befund zum Vorschein, wenn man die Tschechen nach ihrem allgemeinen Interesse an politischen Belangen befragt. Interessierten sich 1990 noch 39 Prozent der Befragten "sehr stark, bzw. stark" für Politik, waren es 1995 nur noch neun Prozent. die Zahl der Gleichgültigen und Desinteressierten ist im gleichen Zeitraum von zwanzig auf achtundvierzig Prozent angewachsen. 1999 waren 79 Prozent aller Tschechen der Ansicht, dass die Politik in allen wichtigen Angelegenheiten oft bis immer versagt. Der Prozentsatz der "resigniert Entfremdeten" ist auf 22 angestiegen. Auch die Beteiligung an politischen Veranstaltungen wie Versammlungen und Bürgerinitiativen ging zwischen 1991 und 1995 ganz deutlich um 20 Prozent zurück. 44 Prozent der Slowaken hatten 1999 Zweifel, ob Demokratie überhaupt in der Lage ist die Probleme zu lösen, mit denen das Land konfrontiert ist.

Die Ursachen

Die Ursachen für die Enttäuschung und politische Entfremdung weiter Teile der tschechischen Bevölkerung liegt einerseits in der Stagnation des Wirtschaftswachstums seit 1997 und andererseits in der Unbeweglichkeit und Krisenanfälligkeit der sozialistischen Minderheitsregierung unter Miloš Zeman. Denn genau das, was laut Meinungsumfrage 1990 von der Mehrheit der Tschechen nicht gewünscht wurde, war mittlerweile eingetreten: Zemans Quasi-Koalition mit der konservativen Demokratischen Bürgerpartei, die durch einen europaweit einzigartigen "Oppositionsvertrag" gebunden eine Regierung am Leben erhält, andererseits aber eine politische Pattsituation zur Folge hat, die kaum Erneuerung zulässt.

Für die meisten Tschechen bedeutete der Vorgang der ökonomischen Transition zumindest im Anfangsstadium beträchtliche finanzielle Verluste und ein vermehrtes Maß an Sorgen, vor allem eine verminderte Jobsicherheit, die unter dem alten Regime automatisch gegeben war. Einen finanziellen Aufschwung nach den Krisenjahren 1991/92 bemerkten die meisten Haushalte nur in einem beschränkten Ausmaß. Laut Ulram/Plasser ist die Mehrheit der Menschen in den "Reformdemokratien" davon überzeugt, dass nur ein kleiner Teil der Bevölkerung, nämlich manche Unternehmer und vor allem Mitglieder der alten Nomenklatur unter den Gewinnern der Umwälzungen seien, während nach Ansicht der Befragten vor allem Frauen, Arbeiter und ältere Menschen die deklarierten Verlierer sind. Allgemein werden die sozialen und ökonomischen Entwicklungen als unfair und "Schieflage" bewertet.

Wiederholte politische Skandale, wie eine Parteispendenaffäre im Zusammenhang mit der Privatisierungspolitik 1997, bei der auch der ehemalige Ministerpräsident Vaclav Klaus in ein äusserst schiefes Licht geriet, tragen ihren Teil zur allgemeinen "Politikverdrossenheit" bei.

Dennoch sieht die überwältigende Mehrheit der Tschechen in der Demokratie und nicht im Einparteienstaat die Zukunft. Und das dürfte wohl das Wichtigste sein.