Weil jetzt sehr viele ganz aufgeregt wegen der Wien-Wahl sind: Was macht eigentlich einen guten Prognostiker aus?
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Komplizierte Sachverhalte auf einfache Gesetzmäßigkeiten zu reduzieren, ist eine ebenso hohe wie seltene Kunst. Vor allem, wenn dabei nicht das Gefühl für die ja unvermindert fortbestehende Komplexität der Wirklichkeit verlorengehen soll.
Der britische Philosoph Isaiah Berlin, 1909 in Riga geboren und 1997 in Oxford gestorben, hatte für diese rare Gabe ein Talent. Berlin teilte Theoretiker in zwei Gruppen ein: in Igel und Füchse. Die Igel betrachten die Welt als ein mehr oder weniger kohärentes System, das auf einer großen Idee beruht; die Füchse dagegen sehen, wenn sie um sich blicken, überall Vielfalt, Widersprüche und Zufälligkeiten. Erstere finden überall Ursache und Wirkung, Letztere misstrauen allen ganzheitlichen Erklärungsversuchen.
Der Yale-Psychologe Philip Tetlock hat nun, gemeinsam mit dem kanadischen Journalisten Dan Gardner, ein Buch darüber geschrieben, aus welchem Stoff jene Menschen sind, welche die Zukunft vorhersagen können ("Superforecasting: The Art and Science of Prediction", Random House Verlag). Mittel zu diesem Zweck war ein Wettbewerb, der von den US-Spionagebehörden veranstaltet wurde. Anlass war deren Einsicht in die eigene Fehlerhaftigkeit. Also stellten die US-Spione ab 2011 hunderte Fragen zu geopolitischen Themen - und tausende Freiwillige machten mit.
Es zeigte sich alsbald, dass eine kleine Gruppe sogenannter "Superforecaster" den anderen mit der Treffsicherheit ihrer Vorhersagen meilenweit davonzog. Dabei war die Truppe äußerst bunt zusammengewürfelt, laut Tetlock waren Hausfrauen ebenso darunter wie Arbeitslose und Mathematikprofessoren. Und sie alle hatten als einzige Hilfsmittel ihr Gehirn und einen Internetanschluss.
Das durchaus überraschende Ergebnis: Die Fähigkeit, kommende Ereignisse richtig vorherzusagen, ist keine Frage der reinen Intelligenz (ganz dumm sollte man natürlich auch nicht sein), wichtiger ist der grundsätzliche Zugang: Bei den Super-Prognostikern handelte es sich ausschließlich um Füchse, keine Igel.
Gute Wahrsager sind demnach neugierig und verfügen über die Fähigkeit, ihre Vorhersagen im Lichte neuer Erkenntnisse anzupassen, und ein intaktes Gespür für statistische Wahrscheinlichkeiten. Die Besten von ihnen waren weniger daran interessiert, ob sie richtig oder falsch lagen, als vielmehr, warum sie recht oder unrecht hatten. Kurz: Super-Prognostiker sind nicht gefangen in jenem mentalen Gefängnis, das uns immer nur nach Bestätigungen für unsere schon bestehenden Auffassungen suchen lässt, sondern ziehen auch alternative Möglichkeiten und einander widersprechende Informationen in Betracht.
Was uns zurück zu den hinter und vor uns liegenden Wahlen führt. Menschen mit klarer Weltsicht und festen Überzeugungen können gute Kommentatoren oder Diskutanten sein, in aller Regel sind sie aber lausige Wahlauguren. Die eigenen Leidenschaften stehen ihnen im Weg und verdecken ihren Blick auf die Vielfalt. Wer glaubt, den Schlüssel für die Lösung der meisten oder gleich aller Probleme in Händen zu halten, ist natürlich stolz darauf. Und Stolz macht bekanntlich blind.