Bei der Debatte um soziale Ungleichheit geht es nicht um Neid, sondern um ökonomische Effizienz, meint Ökonom Milanovic.
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"Wiener Zeitung": Thomas Piketty stellt in diesen Tagen sein Buch über soziale Ungleichheit "Kapital im 21. Jahrhundert" bei der Frankfurter Buchmesse vor, der frühere Arbeitsminister in der Regierung von Bill Clinton, Robert Reich, hat einen streckenweise unterhaltsamen Dokumentarfilm über soziale Ungleichheit gedreht, viele andere Bücher zum Thema sind erschienen. Das Thema ist plötzlich sexy. Warum?Branko Milanovic: Die Rezession in Westeuropa und den Vereinigten Staaten hat der Mittelschicht vor Augen geführt, dass sie nicht wirklich vom Wachstum profitieren konnte. In den USA wurde diese Entwicklung etwa durch die Kreditexpansion verschleiert. Die Mittelschicht konnte in den USA den Lebensstandard kreditfinanziert eine Zeit lang scheinbar halten oder sogar eine Zeit lang verbessern - tatsächlich aber nur auf Kosten höherer Schulden. Dann kam die Krise und die Menschen haben plötzlich begonnen, ihre Position mit jener der Reichen, der Banker etc. zu vergleichen. Dabei mussten die Bürger feststellen, dass es für Sie in den vergangenen Jahren gar nicht so gut gelaufen ist - für die Menschen mit Top-Einkünften hingegen ganz wunderbar. So erklärt sich das Interesse am Thema.
Sie haben sich schon im kommunistischen Jugoslawien mit dem Thema der sozialen Ungleichheit beschäftigt. Das hat Ihren Vorgesetzten dort nicht so gut gefallen.
Das ist absolut richtig. Über soziale Ungleichheit zu forschen war tabu. Im Kommunismus sollte das schließlich kein Thema sein. Als ich dann in die USA zu einer Denkfabrik ging, war mein Forschungsgebiet ebenfalls wieder unbeliebt. Der Vorstand dieser Denkfabrik sagt zu mir: "Mach was Du willst, aber schreib in den Titel Deiner Arbeit irgendetwas mit ‚Armut‘ und nicht ‚soziale Ungleichheit‘." Denkfabriken brauchen eben das Geld reicher Leute. Wenn Du aber über soziale Ungleichheit schreibst, denken die, man stellt ihren Status in Frage. Aber bei Armut setzt unser Mitleid ein. Armen kann man helfen. Sogar bei der Weltbank haben wir lieber über "Gleichheit" gesprochen als über "Ungleichheit".
Ab wann wird soziale Ungleichheit eigentlich zum Problem für die Stabilität eines Landes?
Wir Ökonomen operieren mit dem Gini-Koeffizenten, um Einkommens-Ungleichheit zu beschreiben. Bei einem Wert null bekommen alle genau gleich viel, beim Wert 1 bekommt einer alles, die anderen gar nichts. Wenn sie nur die Nachkommastellen des Gini-Koeffizienten ansehen, dann können sie sich diesen Wert vorstellen, wie die Temperatur: 26°C sind noch angenehm, bei 35°C schwitzen sie ganz ordentlich und bei 50°C fühlen Sie sich wie im Backofen. Ich habe Daten gesehen, aus denen hervorgehen soll, dass der Gini vor der russischen Revolution oder der iranischen Revolution bei 0,45 lag. Da ist man also in der Gefahrenzone. Österreich liegt bei 0,26, die USA und China bei 0,47, Brasilien bei 0,59. Ein Wert um die 0,40 ist zu hoch. Es ist aber eine politische Frage, wie viel Ungleichheit die Bürger bereit sind zu akzeptieren. Das ist je nach politischer Kultur unterschiedlich.
Der chinesische Wirtschaftsreformer Deng Xiaoping hat gesagt: "Lasst einige zuerst reich werden, die anderen werden schon folgen."
Das Hauptproblem in China sind die großen Einkommensunterschiede zwischen urbanen und ländlichen Haushalten. Die urbanen Gebiete Chinas sind heute viermal so reich wie die ländlichen Regionen. In China hat die soziale Ungleichheit vor allem eine geografische Dimension.
Die brasilianische Regierung hat einiges versucht, um die soziale Kluft zu überbrücken.
Die soziale Ungleichheit ist in Brasilien in den vergangenen 15 Jahren gesunken. Entscheidend waren höhere Bildungsausgaben und eine Erhöhung des Mindestlohns. Das hat auch zu höheren Löhnen im informellen Sektor geführt. Von Cash-Transfers wie Bolsa Família haben 50 Millionen Menschen profitiert, 36 Millionen Brasilianer konnten aus der extremen Armut befreit werden. Die Kinder von Familien, die aus Bolsa Família-Mitteln unterstützt werden, müssen mindestens 85 Prozent der Schulzeit an den Schulen anwesend sein. So soll ein sozialer Aufstieg der Familie erreicht werden.
Wie stark ist Einkommensungleichheit eine Folge von Chancenungleichheit?
Wir haben untersucht, welchen Prozentsatz der Ungleichheit man mit exogenen Faktoren erklären kann, etwa der Ausbildung der Eltern oder dem Geschlecht. Das sind Faktoren, auf die Sie keinen Einfluss haben - die haben nichts mit Ihrer Intelligenz oder mit ihrer Anstrengung zu tun. Wir finden, dass Länder mit hoher sozialer Ungleichheit - etwa die USA - einen hohen Anteil an exogenen Faktoren aufweisen. Was heißt das? Die hohe Ungleichheit von Einkommen bedeutet eine hohe Ungleichheit von Chancen. Und das führt dazu, dass es nicht genug intergenerationelle soziale Mobilität gibt. Auf den Punkt gebracht bedeutet das, dass die USA aufhören, ein Land zu sein, wo man vom Tellerwäscher zum Millionär wird.
Es gibt das Argument, dass das Internet die soziale Ungleichheit verstärkt. Was steckt hinter dieser Argumentation?
Ein Beispiel: In Vergangenheit spielte der beste Pianospieler in London oder Paris, der zweitbeste in Wien und der drittbeste in Moskau. Sobald man aber Aufnahmen hatte, wollte jeder nur mehr die Schallplatte mit dem Pianokonzert des besten Pianisten hören. Niemand kauft sich die Aufnahme vom Fünfzehntbesten. Und der beste Pianospieler verkauft nicht nur seine Platten wie die warmen Semmeln, wenn er dann in Wien spielt, will ihn jeder hören.
Wollen Ungleichheits-Forscher eigentlich eine Neid-Debatte?
Selbst wenn es so wäre, würde das nichts daran ändern, dass Ungleichheit ein wichtiges Thema im ökonomischen Diskurs ist.
Wenn es nicht um Neid geht, worum dann?
Zum Beispiel um ökonomische Effizienz. Soziale Ungleichheit hat einen negativen Einfluss auf das Wirtschaftswachstum. Ungleichheit hat weitere negative Folgen: Reiche Menschen wollen tendenziell weniger in öffentliche Einrichtungen investieren. Die Kinder gehen in die Privatschule, wenn sie erkranken, gehen sie in die Privatklinik. Und wir sollten uns die Frage stellen, ob das eine gute Gesellschaft ist, in der wir Menschen haben, die nicht nur reich sind, sondern die auch nicht mehr arbeiten müssen, die von ihren Kapitaleinkünften leben.
Es gibt in der Debatte das Argument, dass die soziale Ungleichheit mit dem Niedergang der Gewerkschaften gestiegen ist.
Dieses Argument ist stichhaltig. Aber ich glaube dennoch nicht, dass wir in die Welt der sechziger und siebziger Jahre zurückgehen können. In einer Welt mit flexibler Arbeit, in der Menschen viele heterogene Dinge tun, wird es sehr schwierig sein, den Gewerkschaftsgedanken wiederzubeleben.
In der Ökonomie gab es immer wieder verschiedene Wellen. Der US-Nobelpreisträger und "New York Times"-Kolumnist Paul Krugman nannte das scherzhaft den Kampf der Süßwasser- gegen die Meerwasser-Ökonomen. Die Chicago-Boys, die liberalen Süßwasserökonomen am Lake Michigan gegen die linken an der Küste in New York, Boston oder Berkeley.
Derzeit geht die Strömung eindeutig in Richtung der Salzwasserökonomen. Die Gründe sind bekannt: die globale Rezession, das Fehlen von Wachstum, die Probleme der Mittelschicht, die Absenz von Wachstum in Japan, in Deutschland, in Italien und in den USA. In der Politik ist es ähnlich: Sogar die Politik des "Dritten Wegs", bei dem sich die Sozialdemokraten Richtung Marktorientierung bewegt haben, ist Geschichte.
Eine archimedische Wende der Politik?
Vielleicht. Dass Thomas Pikettys Buch "Kapital im 21. Jahrhundert" ein Renner ist, ist ein weiteres Signal. Er hat die Fakten auf kraftvolle Weise zusammengeführt und damit den Nerv der Zeit getroffen.
Branko Milanovic ist ein serbisch-amerikanischer Ökonom, der sich dem Thema der sozialen Ungleichheit verschrieben hat. Er war Chefökonom der Weltbank und ist seit Anfang des Jahres Professor am City University of New York Graduate Center, an das 2015 der Nobelpreisträger Paul Krugman von der Princeton-Universität folgen wird. Milanovic war heuer im Sommer Gast beim Europäischen Forum Alpbach, das sich 2015 dem Thema der sozialen Ungleichheit widmen wird.