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Von innen nach außen sehen

Von Hans-Paul Nosko

Wissen

Blinde Menschen "sehen" auch, nur eben anders. Wie man sich zurechtfindet, wenn rund um einen Dunkelheit herrscht, hat der Selbstversuch gezeigt.


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© Robert Newald

Wir treffen uns in einem Café in der Rotenturmstraße nahe dem Schwedenplatz. Bruno Etzenberger ist blind. Er trägt Kunstaugen, die sein Gegenüber anblicken, als ob es seine eigenen Augen wären. Oft sind die Lider allerdings geschlossen. Neben ihm sitzt Gabriele Frisch, Presseverantwortliche der Hilfsgemeinschaft der Blinden und Sehschwachen Österreichs. Sie fungiert quasi als Begleitschutz. Nicht nur für Herrn Etzenberger, der selbst Mitglied der Hilfsgemeinschaft ist: Ich möchte später auf der Straße eine Runde mit Augenbinde und Taststock machen, "und wenn Sie da mit dem Bruno allein unterwegs wären, hätte ich Bedenken", hatte sie scherzhaft hinzugefügt, als wir die Details unseres Treffens besprachen.

Während wir auf den Fotografen warten, fixieren wir die Route, die Herr Etzenberger alleine unternehmen wird: Rotenturmstraße bis zur Stephanskirche, Kärntner Straße, dann wieder auf einen Kaffee. Ich frage ihn, ob er die Gegend kennt. Nicht besonders gut, aber es werde schon gehen: "Ich schlag mich durch", sagt Herr Etzenberger und deutet auf seinen Taststock. Humor hat er.

Gabriele Frisch klärt mich über mögliche Hindernisse auf, die blinden Menschen das Fortkommen auf der Gasse oft erschweren: Postkästen, Werbeständer, Ausverkaufskisten vor den Geschäften. Herr Etzenberger bleibt gelassen: "Das werden wir dann schon sehen."
Er ist 61 Jahre alt und seit mehr als vierzig Jahren auf beiden Augen blind. Wenn er für sich selbst von "sehen" spricht, meint er das nicht ironisch oder will gar damit ein Handicap überspielen: Blinde Menschen sehen auch, nur eben ganz anders. Ich werde einige Stunden später eine leise Ahnung davon bekommen.

Robert Newald, unser Fotograf ist eingetroffen. Er hat sich zwischen zwei Viennale-Terminen freigemacht, und wir brechen sofort auf. Draußen scheint die Sonne, es ist ein wunderschöner Herbstnachmitttag, die Wiener Innenstadt ist voll mit Einheimischen nach dem Büroschluss und Gruppen flanierender Touristen. Herr Etzenberger steckt seinen Taststock zusammen und zieht los. Der Fotograf folgt mit einigem Abstand, Gabriele Frisch und ich bilden die Nachhut.

Herr Etzenberger beschreibt mit seinem Stock etwa viertelkreisgroße Bögen vor seinen Beinen, die exakt ausgependelt sind: rechter Fuß nach vorne, Stock gleichzeitig nach links, linker Fuß nach vorne, Stock nach rechts. "Nicht so schnell", ruft Robert Newald nach einigen Metern. "Fotografentempo, bitte!" Er hat es nicht leicht, seine Bilder zu schießen zwischen all den Menschen, die in unregelmäßigen Abständen vor den Schaufenstern Halt machen oder selbst zum Knipsen stehen bleiben.
Herr Etzenberger ist bisher zügig voran geschritten und verlangsamt nun ein wenig. Das ist auch gut so. Gerade hat er den Fleischmarkt überquert, dabei das Hilfsangebot einer Passantin dankend ausgeschlagen und befindet sich nun, auf dem kleinen Platz mit dem Würstelstand, zwischen einem frei stehenden Postkasten und einer Plastikkiste mit Streusand. Gabriele Frisch ergreift seinen Arm und weist ihm den Weg. Vor der Stephanskirche verlässt uns Robert Newald, er hat seine  Fotos im Kasten.

Die entgegenkommenden Passanten sind nicht das Problem, sie weichen aus.
© Robert Newald

Wir überqueren den Stock-im-Eisen-Platz und münden in die Kärntner Straße ein. Vorne Herr Etzenberger, dahinter Gabriele Frisch, die ab und zu kurze Warnrufe ausstößt, und ich. In der Fußgängerzone ist ziemlich was los. Die Entgegenkommenden sind nicht das Problem, sie weichen aus. Ab und zu steht allerdings neben einer Laterne ein Fahrrad im Weg, das der Taststock verfehlen könnte.

Derartiges bringt Herrn Etzenberger nicht sonderlich aus der Ruhe. "Unlängst hab ich ein Fahrrad abgeräumt, ein Motorrad war auch schon dabei." Die Postkästen stellen für ihn normalerweise kein Problem dar, da er weiß, wie viel Abstand er zu halten habe. Auch mit Stufen und Randsteinen kommt er gut zurecht – außer es handelt sich um abflachte Gehsteigkanten. "Da steht man plötzlich auf der Fahrbahn inmitten der Autos, wie mir das einmal auf der Mariahilfer Straße passiert ist", erinnert er sich. Dieser weicht er seit der Neugestaltung großräumig aus, die "Begegnungszone" will er lieber nicht ausprobieren. Die größte Gefahr seien Radfahrer: "Ein Auto kann ich hören, ein Fahrrad nicht."
Wir kreuzen die Weihburggasse. Es kleben hier zwar die sieben Linien eines Blindenleitsystems auf den Bodenplatten, vor dem Kleidergeschäft "Forever 21" enden diese allerdings im Nirvana. Weder Herr Etzenberger noch Gabriele Frisch können mit der Markierung etwas anfangen. Ein Stück weiter, wo die Johannesgasse abgeht, ist das Leitsystem von einem Kanaldeckel unterbrochen. Auch nicht sonderlich hilfreich. "Es gibt zwar Normen für Leitsysteme, die aber oft nicht eingehalten werden", weiß Gabriele Frisch. Das ist für blinde Menschen schlimmer, als wenn gar nichts markiert ist.

Wir beschließen umzukehren. "Wenn ich alleine bin, gehe ich in der Nähe der Hausmauern", erklärt Herr Etzenberger, das erleichtere ihm das Vorankommen. Er höre, ob er gerade neben einer Hauswand geht oder ob ein Durchgang seitlich wegführt: Der Schall wird unterschiedlich reflektiert. Große Plätze zu überqueren sei daher extrem schwierig, man verliere ganz schnell die Orientierung. In solchen Fällen kann es schon vorkommen, dass Herr Etzenberger um Hilfe bittet. Leichter ginge es mit einem sprechenden Navi, aber das besitzt er noch nicht.

Wir gehen in die Aida am Stock-im-Eisen-Platz und finden in der oberen Etage gerade noch einen freien Tisch. Es ist halb fünf Uhr, beste Konditoreizeit. "Deine Flasche steht auf zwölf Uhr, das Glas auf ein Uhr", gibt Gabriele Frisch Herrn Etzenberger die Positionen an. Er hat ein Punschkrapferl bestellt, ich bekomme ein Maroniherz. Da im Anschluss meine Tour mit Stock und Augenbinde vereinbart ist, lege ich Letztere gleich an und versuche mich in der Kunst des Essens und Trinkens. Der kleine Braune bereitet keine Schwierigkeiten, das Maroniherz war für dieses Experiment eine schlechte Wahl: In der Aida ist es nicht so flach wie anderswo, sondern voluminös und überall abgerundet. Festhalten mit der anderen Hand gilt nicht, und ich rutsche oft ab, bevor ich endlich mit der Gabel hineingestochen habe und danach ein Stückchen abteilen und aufspießen kann.

Während ich mich abmühe, erzählt Herr Etzenberger aus seinem Leben. Mit achtzehn Jahren erblindete er an den Folgen eines grünen Stars, holte nach fünf Jahren weiteren Schulbesuch die Matura nach und arbeitete einige Jahre im Krankenhaus Lainz als Schreibkraft, ehe er ins Bundessozialamt wechselte. Dort war er mehr als dreißig Jahre lang tätig und ging vor zwei Jahren in Pension.

Bruno Etzenberger ist seit mehr als 40 Jahren auf beiden Augen blind. Er weiß, wie viel Abstand er zu Hausmauern halten muss, auch mit Randsteinen kommt er gut zurecht.
© Robert Newald

Vor fünfzehn Jahren lernte er seine heutige Ehefrau Petra kennen, die auch blind ist. "Es war Liebe auf den ersten Ton", beschreibt Herr Etzenberger das zunächst rein akustische Kennenlernen. Ein konkretes Bild hatte er damals von seiner Zukünftigen nicht.

Überhaupt versucht Herr Etzenberger nicht, sich Menschen, die er seit seiner Erblindung kennenlernt, optisch vorzustellen. Da geht es eher um Sympathie, die etwa von der Stimme, den Gesprächsinhalten oder dem persönlichen Umgang abhängt. Auch der Geruch einer anderen Person spielt eine Rolle. Er sei ohnedies nicht so sehr auf Äußerlichkeiten fixiert, sagt er. "Jetzt, als blinder Mensch, sehe ich von innen nach außen – und nicht von außen nach innen." Eine überaus feinsinnige Beschreibung der veränderten Art, die eigene Umgebung wahrzunehmen. Herr Etzenberger erlebt dies auch in anderer Weise: Ganz dunkel ist es um ihn herum nicht geworden. Obwohl ihm beide Augen aufgrund der großen Schmerzen entfernt wurden, könne er links ab und zu ein schwaches Licht wahrnehmen – und zwar auch in stockdunkler Nacht. "Das Licht kommt von innen, nicht von außen", versucht er das Phänomen zu beschreiben. Vielleicht arbeite der linke Sehnerv noch, könne jedoch keine Bilder produzieren, da ja das zugehörige Auge fehlt. Manchmal habe er sogar Farbeindrücke, blau oder grün etwa, allerdings nur dann, wenn er völlig entspannt sei, "wenn ich mich komplett auf mich selbst konzentrieren kann". Derartige Eindrücke stellten sich auch bei seiner Frau ein.

Ich habe mein Maroniherz bis auf einige Stückchen verputzt, Herr Etzenberger ist mit seinem Punschkrapferl längst fertig, und Gabriele Frisch hat ohnehin nur ein Mineralwasser getrunken. Jetzt wird es ernst für mich. Ich rücke die schwarze Augenbinde, die ich beim Bezahlen abgesetzt habe, wieder zurecht und nehme die Stiege in Angriff. Das geht ja noch.

Die Sonne ist bereits untergegangen, Gabriele Frisch drückt mir einen Taststock in die Hand, den ich zusammenstecke. Auch keine Kunst: Die fünf Teile sind mit einem Gummizug verbunden. Mein Vorhaben lautet, die überdachte Passage am Beginn der Rotenturmstraße zu erreichen. Eine Entfernung von etwas mehr als hundert Metern.

Ich gehe los, fahre mit dem Stock im Viertelkreis über den Boden und halte zunächst schützend die freie linke Hand vor mich. Ich höre Gabriele Frisch von hinten sagen, dass ich die Hand ruhig sinken lassen kann, ich mich allerdings dem Schanigarten der Aida nähere. Ich drehe nach rechts und versuche, mich in die vereinbarte Richtung zu bewegen. Ab und zu stößt mein Stock an Hindernisse, die sich anscheinend bewegen – wohl die Füße der Vorbeigehenden. Die Augen habe ich geschlossen, um nicht durch das bisschen Licht, das unter die Maske herein dringt, abgelenkt zu werden. Die Geräusche rings um mich herum kommen mir etwas lauter als sonst vor.

Es ist ganz eigenartig: Die Tatsache, dass ich in völliger Dunkelheit dahin-gehe und von den Leuten ringsum wohl als blind wahrgenommen werde und sie mir daher ausweichen, gibt mir ein völlig anderes Gefühl der Sicherheit, als ich es bisher kannte. Fast könnte man es Geborgenheit nennen. Schon klar, ich habe leicht reden: Es fahren hier keine Autos, ich kenne die Gegend seit Jahrzehnten und hinter mir gehen zwei Menschen, die mir im Notfall beistehen würden. Was mich allerdings erstaunt, ist die völlige Ruhe, die mich überkommt, trotz der vielen Leute ringsum. Ich sehe sie nicht, und sie stören mich nicht.
Einmal höre ich ein sich von rechts näherndes Geräusch und bleibe instinktiv stehen. In einiger Entfernung rattert etwas vorbei, das ich für ein Fahrrad halte. Es ist ein Tretroller, wie mir Gabriele Frisch später erklärt. Sie bittet mich, stehen zu bleiben. Ob ich wisse, in welche Richtung ich gerade gehe.  Ich ahne, dass es nicht die gewünschte ist, habe aber keine Vorstellung, wohin ich tatsächlich unterwegs bin.

Als ich kurz die Augenbinde abnehme, sehe ich, dass ich einen Halbkreis beschrieben habe und mit Blickrichtung zur Aida stehe. Das ist er also, der große Platz, auf dem man schnell die Orientierung verliert. Ich richte mich neu aus, setze die Maske auf, und weiter geht’s. Irgendwann muss jetzt der Schanigarten des Café Weinwurm kommen. Mein Stock schlägt an etwas Hartes, das nicht ausweicht. Ich lege ihn auf den unbekannten Gegenstand, der etwa kniehoch ist und fahre mit der linken Hand den Stock entlang, bis ich auf eine glatte Fläche treffe, die wohl die Wand des Schanigartens ist. Jemand bietet mir Hilfe an, ich lehne dankend ab, da ich nun doch mein Ziel alleine erreichen möchte.

Plötzlich beginnen die Glocken von St. Stephan zu läuten. Wenn man nicht sieht, ein Höllenlärm – selbst wenn er von einer Kirche stammt. Zumindest weiß ich, dass meine Richtung stimmt, da das Geläute von rechts kommt. Nach einigen Metern rieche ich den Fiakerstandplatz. Nichts besonders Feines, aber es dient ebenfalls der Orientierung. Ich höre einen Autobus, der anhält. Das heißt, ich stehe dort, wo die Brandstätte kreuzt. Da ist ein mit kleinen Pflastersteinen ausgelegter Schutzweg, wie ich weiß. Ich warte, bis der Bus abgefahren ist und taste mit dem Fuß, bis ich das Kopfsteinpflaster spüre. Ich lausche aufmerksam: Es kommt kein weiterer Bus, kein Auto, hoffentlich auch kein Radfahrer, und ich überquere, so schnell es geht, den Schutzweg. Neben mir höre ich Gabriele Frisch sagen: "Geschafft!" Drüben angekommen, nehme ich die Augenbinde ab und sehe, dass ich neben der Plakette mit dem Bildnis Präsident Kennedys stehe.

Herr Etzenberger und Gabriele Frisch sind höchst interessiert, wie es mir ergangen ist, und ich schildere meine Erlebnisse, so gut ich kann. Maske und Stock retourniere ich, und wir verabschieden uns. Ich gehe samt Umweg zur Aida zurück und stelle fest, dass ich ungefähr 250 Schritte in der Dunkelheit zurückgelegt habe. Nicht sonderlich viel, aber genug, um einen ganz kleinen, aber wichtigen Eindruck von einer völlig anderen Welt zu bekommen.

Artikel erschienen am 15. November 2013 In: "Wiener Zeitung", Beilage "Wiener Journal"