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In Italien wird auch ohne Streikfonds viel und gern gestreikt. | Politologe Tálos: Gewerkschaftsarbeit stark von politischer Kultur geprägt. | Wien. Wie sich doch die Dinge geändert haben: "Die längste Zeit haben die anderen Länder mit Bewunderung auf Österreich geschaut, weil es nirgendwo sonst so hervorragende Bedingungen für Gewerkschaftsarbeit gab", meint der Wiener Politikwissenschafter Emmerich Tálos im Gespräch mit der "Wiener Zeitung".
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Ob für den krisengeschüttelten ÖGB auf der Suche nach neuen Strukturen der Blick über die Grenzen hinweg erfolgversprechend ist, bezweifelt Tálos. Best-practice-Modelle, die man eins-zu-eins einfach übernehmen kann, gebe es in diesem Bereich nicht, da die Organisationsstrukturen der verschiedenen Gewerkschaften in erster Linie das Resultat der jeweiligen nationalen politischen Kultur darstellen.
Das soll jedoch nicht heißen, dass man nicht trotzdem von anderen Ländern lernen kann, beeilt sich Tálos hinzuzufügen. Künftig wird der ÖGB beispielsweise lernen müssen, mit sehr viel weniger Geld das Auslangen zu finden, vor allem vom Streikfonds dürfte nach dem Bawag-Verkauf fast nichts mehr übrig bleiben. Hier empfiehlt der Politologe einen Blick nach Italien, wo die Gewerkschaften politisch und organisatorisch stark fragmentiert, aber ausgenommen streikfreudig agieren. Und das, obwohl sie über keinerlei Streikfonds verfügen.
Für Tálos zeigt dies, dass "die Kampfkraft einer Gewerkschaft nicht von deren Finanzmittel" abhänge. In Italien tragen die streikenden Arbeitnehmer ihren Lohnausfall selbst. Und um diesen für die einzelnen Streikenden möglichst gering zu halten, die sonstigen Streikfolgen für die Arbeitgeber jedoch zu maximieren, wenden die Gewerkschaften hier so genannte Schachbrettstrategien an.
Das Beispiel Frankreichs zeigt wiederum, dass die Streikfreudigkeit einer Gesellschaft nicht mit dem Organisationsgrad der Gewerkschaften zusammenhängen. Nur neun Prozent der französischen Arbeitnehmer sind Gewerkschaftsmitglieder (in Österreich 40 Prozent, in Italien 35 Prozent).
Am anderen Ende dieser Skala rangieren die skandinavischen Länder, deren Organisationsgrad um die 80 Prozent liegt. Dies hängt jedoch damit zusammen, dass es hier die Gewerkschaften sind, die die Arbeitslosenbeihilfe organisieren. Tálos: "Wir können aber doch nicht unser Beihilfe-System umstellen, nur um die Mitgliederzahlen des ÖGB zu steigern."
Deutschland - der Organisationsgrad liegt hier bei 30 Prozent - hat mit Österreich einen starken Dachverband gemeinsam, obwohl der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) im Unterschied zum ÖGB nicht sämtliche Einzelgewerkschaften umfasst. Dafür wird bei unseren Nachbarn mehr Wert auf die politische Unabhängigkeit gelegt: Ein Pendant zu den Fraktionen gibt es in Deutschland nämlich nicht, auch wenn eine traditionelle Nähe zur SPD natürlich nicht zu leugnen ist.