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Von Knutschkugeln und Nierentischen

Von Markus Kauffmann

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Markus Kauffmann , seit 22 Jahren Wiener in Berlin, macht sich Gedanken über Deutschland.

"Es" hatte drei Räder, 12 PS und holperte immerhin bis zu 85 km/h über kriegszerstörte Straßen. Der Kabinenroller BMW-Isetta wurde zum Symbol des deutschen Wirtschaftswunders.


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"Knutschkugeln" nannte man diese Kleinstautos, die man durch eine hochklappbare Vordertür betreten konnte; das Lenkrad klappte gleich mit hoch. Zu zweit musste man auf Tuchfühlung gehen. Als Ikone seiner Zeit steht ein Exemplar dieses putzigen Gefährts heute im Museum, im Haus der Geschichte in Bonn.

Fünf Jahre nach dem Krieg hatten die Deutschen noch kein Geld für "richtige" Autos. Selbst ein Volkswagen war für die meisten unerschwinglich. Viele Produktionsstätten, die auch für die Rüstungsindustrie des Hitlerreichs tätig waren, wurden zerbombt. Da hatte BMW die Idee, die Marktlücke zu füllen, und brachte in Lizenz die Isetta auf den Markt. Die bayerischen Autobauer hatten damit so durchschlagenden Erfolg, dass sich sogar die Polizei damit ausstattete. Noch heute, fünf Jahrzehnte nach Ende der Produktion, fahren noch etwa tausend Isettas durch Deutschland.

Isetta wurde zum Symbol des deutschen Aufbauwillens und des Wirtschaftswunders in den Fünfziger Jahren. "Wir Wunderkinder", eine bierernste Satire auf den deutschen Michel Stehaufmann, war der Schlüsselfilm dieser Zeit. Statt plumper Militärstiefel trug man Pumps, RocknRoll statt Badenweiler Marsch, rebellische "Halbstarke" statt angepasste Burschen und Mädels - und Italienreisen im Kleinstwagen.

Das Bruttosozialprodukt stieg steil an, von 79 Milliarden Deutsche Mark im Jahr 1949 auf 3030 Milliarden 1960. Gleichzeitig sank die Zahl der Arbeitslosen von elf Prozent im Jahr 1950 auf erstmals unter ein Prozent 1961. Entsprechend stieg auch die Zahl der Menschen, die Arbeit hatten, von 20,3 Millionen 1950 auf 26,3 Millionen im Jahr 1960. Auch die Löhne schnellten in die Höhe. Man konnte sich wieder etwas leisten. Nierentische und Schalensitze, später Telefon und Waschmaschine.

Ludwig Erhard, Wirtschaftsminister und später kurz Kanzler, gilt als Vater der Sozialen Marktwirtschaft, die dieses Wunder vollbrachte und die seither zur Staatsräson Deutschlands wurde. Selbst die aus dem Kommunismus hervorgegangene Linkspartei reklamiert diesen Begriff heute für sich und ihre Ziele.

Die Ausstellungen im Haus der Geschichte in Bonn zeigen die Gesichter, Symbole und Ikonen dieser neuen Lebenswelt. Große Kaufhäuser entstanden und prägten manches verschlafene Ortsbild. Straßen wurden breit angelegt, bereit für den zunehmenden Autoverkehr. Perlonkleider, Nylonstrümpfe, bügelfreie Hemden, Eisdielen und Musicboxen, Phonoschränke und Kofferradios standen für materiellen Fortschritt.

Für den sozialen Fortschritt gab es doppelt so viel Urlaub wie bisher, ein Mutterschutzgesetz, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und Kindergeld. Sogar ein Gleichberechtigungsgesetz wurde in der oft nachträglich verteufelten Adenauer-Ära beschlossen. Adenauer war es auch, der schon damals die bis zur Wiedervereinigung gültigen Grundlagen der Deutschlandpolitik schuf: Klare Westbindung, freiheitlich-demokratische Grundordnung und Festhalten an der deutschen Einheit in Frieden und Freiheit.

Technik und Design, Kultur und Unterhaltung, Politik und Sport - alle Lebensbereiche seit den Fünfziger Jahren werden im Bonner Haus der Geschichte übersichtlich dargestellt. Seit Beginn der Sammlungstätigkeit im Jahr 1986 konnten etwa 610.000 museale Objekte übernommen werden. So trägt dieses Haus zum Erhalt des kulturellen Gedächtnisses der bundesdeutschen Gesellschaft und ihrer Entstehung bei.

Markus Kauffmann, seit 25 Jahren Wiener in Berlin, macht sich Gedanken über Deutschland.