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London will in Brüssel um eine Verschiebung des Brexit ansuchen. May will ihren Deal nicht für tot erklären.
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London/Brüssel. Immer wieder muss Theresa May dieser Tage einen nicht gerade schmeichelhaften Vergleich über sich ergehen lassen. Zuletzt meinte der niederländische Premier Mark Rutte, seine britische Amtskollegin erinnere ihn an den schwarzen Ritter aus Monty Pythons "Ritter der Kokosnuss". In einem Duell verliert er zuerst beide Arme, dann die Beine - ans Aufgeben denkt er dennoch nicht. "Es ist nur ein Kratzer!", behauptet er, "ich bin unverwundbar!"
Auch Theresa May hat viel verloren. Zwei Mal ist sie mit ihrem Brexit-Deal im britischen Unterhaus bereits gescheitert. Diese Woche wollte sie ein drittes Mal abstimmen lassen, doch Parlamentspräsident John Bercow hat die Pläne der Premierministerin am Montag gesprengt. Ein drittes Votum will er nur zulassen, wenn May "substanzielle Änderungen" an dem Vertrag vornimmt. Doch so einfach ist das nicht: Brüssel will das Austrittsabkommen nicht mehr aufschnüren, das hat es auch schon beim Streit um den Backstop zur Vermeidung einer Grenze in Irland geheißen.
EU fürchtet Erpressung
Immerhin hat May nun erkannt, dass sich ihr Land in einer politischen Krise befindet. Laut einem Sprecher will sie deshalb einen Brief an EU-Ratspräsident Donald Tusk schreiben und darum bitten, den Brexit verschieben zu dürfen. An welchen Zeitraum May dabei denkt, wollte sie aber nicht einmal ihren Ministern verraten. Denkbar ist eine rein "technische" Vertagung des EU-Austritts um einige Wochen. Doch wäre es schwer, in solch kurzer Zeit eine Lösung zu finden. Bei einer Vertagung über den Juni hinaus müsste das Vereinigte Königreich an den Europawahlen teilnehmen. Das ist nötig, weil bei einer längerfristigen Verschiebung auch ein Verbleib in der EU nicht ausgeschlossen werden kann. Hätte das Königreich dann keine Abgeordneten nach Brüssel entsandt, wären alle Entscheidungen der EU angreifbar.
Allerdings hat Brüssel bereits klargemacht, dass eine Verschiebung des Brexit nur in Frage kommt, wenn London einen konkreten Plan auf den Tisch legt, wie die zusätzliche Zeit genutzt werden soll. Wahrscheinlich ist, dass die verbleibenden 27 Mitgliedstaaten einer Austrittsverschiebung nur zustimmen, wenn London einsieht, dass die Zeit nicht für eine Neuverhandlung des Brexit-Deals genutzt werden kann. In Brüssel herrscht die berechtigte Sorge, dass die britische Regierung wichtige Entscheidungen in der EU blockieren könnte, um sich Vorteile im Brexit-Streit zu verschaffen. Das wäre möglich, weil das Vereinigte Königreich bis zum tatsächlichen EU-Austritt alle Rechten und Pflichten eines Mitgliedstaates hat. Dazu gehört auch ein Vetorecht bei wichtigen Entscheidungen wie etwa dem Haushaltsbudget der EU.
Opposition in den Startlöchern
Ihren Deal will May trotz allem nicht für tot erklären. Am Montag suchte die Regierung hektisch nach Wegen, um die Unterhaus-Regel aus dem Jahr 1604, auf sich Bercow bezieht, zu umgehen. Setzt May sich bei ihren europäischen Amtskollegen für eine Verschiebung des Brexit ein, dann könnte das reichen, um Bercow zufriedenzustellen, hofft Steve Barclay. Der Brexit-Minister warnte davor, dass Großbritannien gar nicht aus der EU austreten könnte. "Entweder man hat einen Deal oder keinen oder man hat gar keinen Brexit", sagte er zur BBC.
Genau darauf hofft nun die Opposition: Sie besprach am Dienstag die Möglichkeit eines zweiten Referendums. Labour-Chef Jeremy Corbyn hatte sich lange gegen die Idee gesträubt, nun scheint er sich den Wünschen seiner Partei gefügt zu haben. Die schottische SNP, die walisische Plaid Cymru, die Liberaldemokraten und die Green Party sind schon lange dafür, das Volk noch einmal zum EU-Austritt zu befragen.
Die Opposition könnte zudem ein weiteres Misstrauensvotum gegen die Regierung ansetzen. Im Jänner war sie damit gescheitert, doch diesmal würden sich wohl auch Abgeordnete aus Mays Tory-Partei an der Meuterei beteiligen. Vor allem die Brexit-Hardliner unter den Konservativen sägen an Mays Sessel.
Hoffnung auf EU-Gipfel
Die Reaktionen aus Brüssel verrieten am Dienstag vor allem eines: Die Geduld mit den Briten ist endgültig am Ende. "Liebe Freunde in London, bitte liefert. Die Uhr tickt", sagte etwa Deutschlands Europa-Staatsminister Michael Roth. "Unsere Geduld als Europäische Union wird derzeit auf eine sehr harte Probe gestellt."
Doch der EU bleibt nichts übrig als abzuwarten. In Berlin sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel, sie werde bis zur letzten Stunde für einen geregelten Brexit kämpfen. Ohne eine klare Position der Briten könne die EU keine Entscheidung über eine Brexit-Verschiebung treffen. Merkel hofft, dass May beim EU-Gipfel am Donnerstag und Freitag in Brüssel klarmacht, was London nun plant.
Möglich ist nach dem Coup des Parlamentspräsidenten wieder (fast) alles: eine Verschiebung des Brexit, ein zweites Referendum und damit ein Rücktritt vom EU-Austritt. Die letzte Staffel in der Brexit-Groteske hat begonnen.