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Hochsensible Menschen nehmen innere und äußere Reize intensiver wahr. Bei dem Phänomen handelt es sich aber um keine subjektive Befindlichkeit, sondern um eine genetische Veranlagung.
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Wenn Rolf Sellin ein Wohnhaus beschreibt, spürt der Leser förmlich, wie es sein muss, darin zu leben. Wo ist der gemütlichste Platz zum Schlafen, wo werden die Kinder ihre Puppen anziehen, gibt es eine Küche, in der mit Grünblick Karotten geschnitten werden können? Nicht vielen gelingt es, Architekturen und deren Wirkung dermaßen plastisch zu beschreiben wie dem 65-jährigen Diplomingenieur und Architekturjournalisten aus Stuttgart. Es liegt ihm, sich in den Architekten und sein Konzept hineinzuversetzen, die Wirkung eines Gebäudes oder von Räumen auf den Nutzer gut zu beschreiben. Sellin hat den Beruf des Journalisten dennoch an den Nagel gehängt und sich zum Heilpraktiker und systemischen Coach ausbilden lassen. Der Grund: die Krise eines Hochsensiblen.

Lina betritt den Raum und kuschelt sich an das Bein ihrer Mutter; vorsichtig, nicht ängstlich schaut sie mich an. Das eineinhalbjährige Mädchen ist, ähnlich wie Sellin, hochsensibel. Was Sellin erst im Alter von 56 Jahren herausfand, weiß Linas Mutter Elisabeth Heller, von Beruf Psychotherapeutin, seit den ersten Lebensmonaten ihrer Tochter.
Hohes Schutzbedürfnis
"Ich habe Lina von Anfang an viel getragen", berichtet Heller, 32. "Einerseits da ich es so wollte, andererseits gab es keine Alternativen." Jeder Versuch, Lina in ihr Bettchen oder den Kinderwagen zu legen, scheitert. Die gut gemeinten Aussagen ihrer Umgebung, Lina doch einfach schreien zu lassen und sie trotz des Widerwillens ins kuschelige Nest zu legen, ignoriert Heller - nicht ohne Selbstzweifel. Die vermeintliche "Klammermama" muss sich viele Vorwürfe anhören: "Du hast ihr das Tragen antrainiert. Du bist zu weich. Sie kann nicht alles haben." Obwohl Heller zu Beginn noch nichts von der Besonderheit ihrer Tochter weiß, macht sie es intuitiv richtig und gibt Lina die zusätzliche Menge an Schutz und Geborgenheit, die sie braucht.
Etwa 15 bis 20 Prozent aller Babys verhalten sich ähnlich wie Lina, stellte der amerikanische Pionier der Entwicklungspsychologe und Harvard-Professor Jerome Kagan fest. In einem Experiment setzt er Säuglinge im Alter von vier Monaten für sie unbekannten Situationen aus. Knapp ein Fünftel seiner kleinen Probanden reagiert spontan gehemmt, zurückhaltend und eher vorsichtig auf neue Personen. Kagan bezeichnet sie als "high reactives".
40 Prozent erfreuen sich ohne Rückhalt am Neuen und lächeln spontan, während weitere 40 Prozent gemischte Reaktionen aufweisen. Für Kagan steht fest: Kinder kommen mit einem gewissen Temperament auf die Welt und reagieren von Natur aus unterschiedlich auf Stress durch Trennung von ihrer primären Bezugsperson, zumeist die Mutter.
Ich habe Glück, Lina mag mich. Sie nähert sich mir während des Gesprächs immer wieder, gibt mir einen Zettel Papier oder ein Auto, plaudert mit mir - natürlich mit einem gewissen Respektabstand - und lächelt sogar hier und da. Heller erzählt, dass Treffen auch ganz anders verlaufen können. Fühlt sich Lina nicht wohl in der Anwesenheit einer Person, reagiert sie mit lauten und heftigen "Nein"-Rufen, klammert sich an die Mutter, versteckt ihr Gesicht und macht sich klein. "Eine typische Angstreaktion", weiß die Gestalttherapeutin aus ihrer Praxis zu berichten. Ignorieren Eltern derartiges Verhalten ihres Kindes oder bestrafen es sogar dafür, kann in ihm der Eindruck entstehen, selbst "falsch" zu ticken.
Was Heller und der amerikanische Forscher Kagan an den Allerkleinsten beobachten, beforscht die US-Psychologin Elaine Aaron seit den 1990er Jahren an Erwachsenen: das Phänomen der Hochsensibilität. Sie konnte mit zahlreichen Studien belegen, dass es sich nicht um eine subjektive Befindlichkeit, sondern um eine nachweisbare genetische Veranlagung handelt. Gemeint ist damit konkret, eine intensivere Wahrnehmung innerer und äußerer Reize aufgrund von neurologischen Eigenschaften.
"Grundsätzlich sucht jeder Mensch nach seiner optimalen Reizschwelle", schreibt sie in ihrem Buch "The highly sensitive person". Hochsensible würden jedoch viel schneller mit Anspannung auf Über- oder Unterforderung reagieren. Aaron gelingt es nachzuweisen, dass hochsensible Kinder bei Stress mehr Noradrenalin und Cortisol ausschütten als ihre Altersgenossen. Beide Hormone werden immer dann produziert, wenn die Nerven mehr oder weniger erregt sind.
"Hochsensibilität ist weder eine Krankheit noch eine Diagnose", betont die Psychotherapeutin Heller im Gespräch immer wieder. Für sie ist klar, dass sich auch an Lina nichts ändern muss. Hochsensible Kinder brauchen mehr Zeit um die Dinge zu entdecken, schlafen möglicherweise weniger und lieben feste Gewohnheiten und Rituale. Sie sind die neugierigen Techniker in der Kindergruppe, die kreativen Maler und emsigen Putzhilfen. Sie erkunden nicht nur ihre Umwelt besonders intensiv, sondern spüren auch die Atmosphären, Stimmungen und Belastbarkeitsgrenzen ihrer Umgebung sehr stark.
Was Heller als besondere Gabe bezeichnet, stellt für viele Hochsensible dennoch eine tägliche Gratwanderung dar. In einer Gesellschaft, die auf Schnelligkeit und Durchsetzungsvermögen ausgerichtet ist, haben typisch hochsensible Eigenschaften wie Gewissenhaftigkeit, Bedächtigkeit und Feinfühligkeit immer weniger Platz.
Hemmnis Feingefühl
Der Architekt Sellin weiß ein Lied davon zu singen, wie die eigene intensive Wahrnehmung sein Berufsleben über viele Jahre "behinderte". "Schon als Student habe ich bei meinem Praktikum auf der Baustelle gemerkt, dass da ein ganz anderer Wind weht und dass ich es schwer haben würde, mich durchzusetzen." Nach dem Diplom beginnt er deshalb als Redakteur von Architekturfachzeitschriften zu arbeiten. Doch auch in der Redaktion holt Sellin seine besondere Veranlagung ein. Er will perfekt sein, es allen Recht machen und nicht nur die Architektur, sondern auch noch den sauberen Fachzeitschriftenjournalismus retten - "Ein ziemliches Unterfangen!" wie er im Rückblick feststellt.
Viele hochsensible Personen zeichnen sich im Alltag dadurch aus, achtsamer, vorsichtiger und verantwortungsvoller zu agieren als der Durchschnitt - im Prinzip gut, auf Dauer extrem belastend. Erschöpfung, Gereiztheit und Überforderung sind nur einige der möglichen Folgen. "Kinder wie Erwachsene müssen vor allem lernen sich abzugrenzen", so die Therapeutin Heller. Hochsensible würden dazu tendieren, die Probleme der ganzen Welt auf sich zu laden. "Sie verstehen einfach jeden und glauben, alle Konflikt lösen zu müssen", so die Expertin.
Hochsensible, die nicht um ihre Veranlagung wissen und zusätzlich eine schwere Kindheit hatten, entwickeln leicht psychische Probleme. In Hellers Praxis sitzen Hochsensible mit Angst- und Zwangsstörungen genauso wie Burn-out- und Depressionspatienten. Wird das Problem nicht ursächlich behandelt, kann sich eine Spirale des Scheiterns entwickeln. Der Selbstwert Betroffener sinkt immer mehr, Rückzug und Isolation sind die Folge. Am Schluss scheinen nur noch die eigenen vier Wände Geborgenheit zu vermitteln.
Auch Rolf Sellin kennt die "Falle" seines Wohnzimmers. Jahrelang kommt er völlig überreizt und überstimuliert vom Beruf nach Hause - nur noch auf der Suche nach Ruhe, zu aufgedreht, um einen klaren Gedanken zu fassen, zu müde, um einzuschlafen. Entspannung scheint ihm am ehesten der Fernseher zu bieten. Doch die flimmernden Bilder verschlimmern alles nur, bringen neue Reize, anstatt echter Erholung. Sellin bringt sich selbst an den Rand der persönlichen Energiekrise.
"Zu oft suchen Hochsensible die Lösung ihrer Probleme noch darin, sich zurückzuziehen und sich zu schonen, aber damit ist nichts gelöst", sagt Sellin. Er selbst nutzt seine Krise, um Methoden zu finden, wie er seine Wahrnehmung steuern und zentrieren kann. Er dreht den Spieß um: Statt sich von den Reizen passiv überfluten zu lassen, lernt er die Reizaufnahme bewusst zu gestalten. In Stuttgart gründet er bald sein eigenes Institut für Hochsensibilität, in dem er seine Erkenntnisse an andere Hochsensible weitergibt. 2011 erscheint sein erstes Buch "Wenn die Haut zu dünn ist. Hochsensibilität - Vom Manko zum Plus". Mittlerweile ist der Diplomingenieur deutschlandweit für seine Vorträge und Seminare bekannt.
Was die Therapeutin Heller und den Coach Sellin eint, ist ihre Überzeugung von der Wichtigkeit Hochsensibler für die Gesellschaft. Sie gehen nicht nach Äußerlichem, sondern haben ein besonderes Gespür für innere Werte. "Mit ihrer Sichtweise sind sie es, die zuerst Unstimmigkeiten bemerken, die Radaren für Gefahren und Entwicklungen haben, Röntgengeräte, ein ganzes Markt- und Meinungsforschungsinstitut . . . Staaten oder Firmen lassen sich so etwas viel kosten", so der Buchautor Sellin.
80 Prozent Krieger
Auch die Psychologin Aron weist in ihrem Buch darauf hin, dass die 20 Prozent Hochsensiblen und 80 Prozent mit unerschrockenem Wesen evolutionär gesehen durchaus Sinn machen. Gäbe es sie nicht, hätten die raschen, aber möglicherweise riskanten Aktionen der "Krieger", wie sie nicht Hochsensible bezeichnet, die Menschheit möglicherweise bereits ausgelöscht. "Damit aggressive Gesellschaften überleben können, brauchen sie immer jene Gruppe von Priestern, Richtern und Beratern, die das Gleichgewicht ausbalancieren", schreibt sie in ihrem Buch.
Lina macht sich fertig zum Aufbruch. Draußen hat es zu regnen begonnen. Dass das kleine Mädchen sich problemlos die Gummistiefel anziehen lässt, ist keine Selbstverständlichkeit. Es sind die zweiten, nachdem die ersten zu eng waren. Elisabeth Heller weiß, dass ihre Tochter weder zu enge Kleidung noch kratzende Etiketten mag. "Die schneide ich einfach raus, warum denn auch nicht?", sagt sie ganz selbstverständlich und fügt hinzu: "Hochsensible Kinder kosten vielleicht anfangs mehr Kraft, sind aber gleichzeitig sehr unkompliziert. Sie lassen sich vieles erklären und kooperieren gerne." Lina hört das Gesagte nicht mehr, sie ist bereits am Weg zum Ausgang, wo sie versucht, die Türklinke zu erreichen . . . wie jedes neugierige Kind.
Dagmar Weidinger, geboren 1980, Kunsthistorikerin, Lektorin am Institut für Kunstgeschichte der Universität Wien und freie Journalistin.