Individuen und Kollektive sind dadurch verbunden, dass in beiden menschlichen Ausprägungen Gesetze des Unbewussten am Werke sind. Ein historischer und tiefenpsychologischer Rundblick.
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Es besteht kein Zweifel, dass Sigmund Freud, wie immer man zu den Einzelheiten seiner Lehren und Begriffe stehen mag, einen gewaltigen Erkenntnisfortschritt in der Geschichte des menschlichen Denkens und der menschlichen Selbstreflexion herbeigeführt hat. Er hat den Menschen im Allgemeinen und den Patienten im Besonderen erklärt, nicht, wie sie bis dahin glaubten, ohne weiteres und von vorneherein Herren im eigenen Hause zu sein, sondern dass sie erst mühevolle Umwege einschlagen müssen, um diese Herrschaft über sich selbst wenigstens teilweise zu gewinnen.
Die "Massenpsyche"
Doch nicht genug damit: Freud hat auch gezeigt, dass die Gesetzmäßigkeiten des Unbewussten auch in der "Massenpsyche" walten und uns die Psychoanalyse nicht nur unser Wissen über den Einzelnen, sondern auch über kollektive Vorgänge erschließt. In seiner 1921 erschienen Schrift "Massenpsychologie und Ich-Analyse" hat er die Erklärungsmuster, die in der Seele des Einzelnen wirken, auch auf kollektive Vorgänge, Situationen und Institutionen ausgedehnt.
Freud hat dabei auf Erkenntnisse zurückgegriffen, die der französische Forscher Gustave Le Bon bereits Ende des 19. Jahrhunderts in seinem fundamentalen Werk "Psychologie der Massen" entwickelt hat. Der Brückenschlag zur Massenpsychologie am Vorabend des "Aufstands der Massen" (Ortega y Gasset), der erst im 20. Jahrhundert voll auf der Bühne der Weltgeschichte erfolgte, fiel Freud umso leichter, als sowohl in der Psychoanalyse als auch in der Massenpsychologie Le Bons ein Begriff eine Rolle spielte, ja von zentraler Bedeutung war: jener der Hypnose nämlich. Wenn Freud später auch von der Hypnose als Mittel der Therapie abgekommen ist, so hat sie dennoch nie aufgehört, als Deutungsmuster jene Funktion zu erfüllen, die sie auch in der Massenpsychologie hat. Die Masse ist wie ein hypnotisierter Patient, der unter fremder Suggestion und Führung steht. Die Masse ist noch mehr als der einzelne Mensch Triebwesen, sie ist wandelbar, impulsiv und reizbar. Die Masse nivelliert nach unten, in ihr fallen ansonsten funktionierende Hemmungen, es findet eine kollektive Intelligenzhemmung und Affektsteigerung statt.
Männerbünde
Nach Freud lassen sich institutionalisierte und freischwebende, mehr oder weniger spontane Massen unterscheiden. Als Beispiele für institutionalisierte "künstliche Massen" führt Freud die Kirche, insbesondere die katholische, und das Heer an. Diese künstlichen Massen sind nicht nur durch die Bindung der Angehörigen dieses Standes aneinander und untereinander charakterisiert, sondern auch durch die Bindung an die Führung, bzw. den Führer und Befehlshaber, die in der Gehorsamspflicht zum Ausdruck kommt. Es ist bemerkenswert, dass Freud zwei Institutionen als Musterbeispiele geführter Massen anführt, die beide als "Männerbünde" zu bezeichnen sind. Freud selbst verwendet diesen ihm wohl durchaus geläufigen Terminus nicht, doch es ist die Frage, ob man ohne Zuhilfenahme dieses Begriffs alle sozialen Phänomene, insbesondere den Staat selbst, der alle anderen Institutionen überragt, erklären kann. So hat der deutsche Kulturphilosoph und Historiker der Wandervogelbewegung Hans Blüher (1868-1955) in seinem Werk "Die Rolle der Erotik in der menschlichen Gesellschaft" den Staat nicht, wie es der sonstigen Tradition entspricht, als erweiterte Familie verstanden, sondern als Produkt eines mann-männlichen Eros, als deren historische Inkarnation er Sparta nominierte, abgeleitet.
Der 15. Juli 1927
Jedenfalls ist eine Masse nur dann als gebändigt anzusehen, wenn sie wie eine Herde von einem Hirten geführt und in Schach gehalten wird. Freilich gibt es Beispiele für Massen, die ohne Führung sich selbst überlassen blieben und daher auch ins Chaos führten. Eine Massendemonstration, die sich einige Jahre nach dem Erscheinen der Schrift von 1921 in der Wohngegend Freuds, bzw. an ihr vorbei abspielte, verdient in diesem Zusammenhang eine besondere Erwähnung, weil sie auch in der Geschichte der Ersten Republik eine zentrale Rolle spielt: der 15. Juli 1927, der den österreichischen Nobelpreisträger Elias Canetti zu seinem fundamentalen Werk "Masse und Macht" angeregt hat. An diesem Tage kam es zu Demonstrationen, die in keinem Verhältnis zum Anlass, einem Geschworenengerichtsurteil, standen, aber sich nichtsdestoweniger als Symptome eines aufgestauten Aggressionspotenzials der Arbeitermassen in voller Wucht entluden und nicht nur den Justizpalast in Brand steckten, sondern auch die österreichische Demokratie unter sich begruben.
Wilhelm Ellenbogen, einer der führenden Politiker der österreichischen Sozialdemokratie, hat in dem von mir 1983 edierten Erinnerungsband "Die Katastrophe der österreichischen Sozialdemokratie" den schwerwiegenden Vorwurf gegen die Führung der Partei erhoben, die Massen bewusst sich selbst überlassen zu haben. Es gibt viele andere historische Beispiele für die Unberechenbarkeit der Massen, darunter auch historisch näherliegende. So wurden wir als Zeitgenossen 1989 Zeugen, wie eine vom Regime Ceauşescus wie schon so oft vorher organisierte Jubelmasse plötzlich zu einer den Führer verwünschenden Hassmasse wurde, die eigentlich schon den Sturz des Diktators, der dann kurz darauf durch die Exekution seiner Person und der seiner Frau herbeigeführt wurde, besiegelt wurde.
Freilich gibt es auch erfreuliche Beispiele disziplinierter und auf der Höhe der historischen Situation agierender Massen, wie jener, die 1989 in Ostberlin "Wir sind das Volk" skandierte und einen friedlichen Wandel und Zusammenbruch des Systems herbeiführte.
Psychoanalytische Begriffe erscheinen geeignet, historische Vorgänge zu beschreiben: so etwa die Begriffe der Fixierung, der Regression, der Verdrängung und der "Wiederkehr des Verdrängten". So hat der Theoretiker des italienischen Faschismus, der Philosoph Giulio Cesare Evola, den Faschismus als "rivolta contra il mondo moderno" charakterisiert, eine Deutung, der man auch als Kritiker des Faschismus und Nationalsozialismus im Rückblick zustimmen kann, waren diese Bewegungen doch Versuche, die vergangene Herrlichkeit der idealisierten römischen, bzw. germanischen Vergangenheit in eine utopische Zukunft, die länger als tausend Jahre andauern sollte, zu überführen.
Diese Vergangenheit, die in den Abgrund führte, wurde freilich lange verdrängt, sodass deren Aufarbeitung als Form der Therapie bis zum heutigen Tag andauert und nie von einer definitiven Heilung des Krankheitsprozesses gesprochen werden kann.
Adlers Alternative
Doch nicht nur die Psychoanalyse, sondern auch die aus der Freudschen Schule 1911 hervorgegangene Individualpsychologie Alfred Adlers, dessen Asche erst kürzlich nach Wien überführt und in einem Ehrengrab am Zentralfriedhof versenkt wurde, eröffnet die Möglichkeit, kollektive Vorgänge in individuellen Kategorien auszudrücken. Ja, die Individualpsychologie ist noch besser geeignet, Individuelles in Soziales zu transformieren. Denn im Gegensatz zu dem Anschein, den der selbst gewählte Terminus "Individualpsychologie" erweckt, ist die Individualpsychologie in noch höherem Maße Sozialpsychologie denn die Psychoanalyse, hat sie doch den Begriff des "Sozialen" und des "Gemeinschaftsgefühls" als Kriterium für die Charakterisierung des Gesunden gegenüber dem Neurotischen und Krankhaften eingeführt.
Alfred Adler sprach mit seiner Selbstcharakterisierung das Soziale nicht an, das jedoch in seiner Lehre auch ohne diesen Terminus gut aufgehoben gewesen wäre. Mit dem Terminus "Individualpsychologie" wollte Alfred Adler Freud gegenüber, von dem er sich losgesagt hatte, betonen, dass das Seelenleben nicht wie in der Trieblehre Freuds als eine Trias von Ich, Es und Über-Ich aufzufassen ist, sondern als eine Einheit, die durch den "Lebensplan", der frei gewählt ist, hergestellt wird. Während Freud streng kausal und deterministisch dachte, war für Adler die Finalität die eigentliche Konstante und Achse des Seelenlebens. Freud verschloss sich dieser Deutung schon deshalb, weil er in ihr ein Einfallstor für die Annahme einer in der Welt insgesamt waltenden Finalität und damit den ersten Schritt zum lieben Gott, mit dem Freud ja auf Kriegsfuß stand, erblickte.
Das Adlersche Deutungsschema lässt sich besonders gut auf das Österreich der Ersten Republik anwenden. Adler spricht in verschiedenen Zusammenhängen vom "Kleinheitswahn", unter dem klein gewachsene Menschen als einer speziellen Form der Organminderwertigkeit, die vielfach durch "Flucht in Größenphantasien" kompensiert wird, leiden. So wie im Verhältnis zu den anderen Menschen kleine und sich daher insgesamt klein vorkommende Menschen vielfach dazu neigen, sich in Größenphantasien zu ergehen, statt sich ihren Problemen durch große Anstrengungen und Leistungen zu stellen und sich mit ihrer Kleinheit positiv abzufinden, so hat auch die Mehrheit der Österreicher der Zwischenkriegszeit nach dem Zusammenbruch der Habsburgermonarchie entweder, wenn auch nur zum kleineren Teil, die Rückkehr des alten Österreich ersehnt, zum größeren Teil aber das Heil im Anschluss an das größere Deutschland erblickt.
Statt sich wie schon im alten Österreich mit seinen Nationalitätenproblemen an der benachbarten Schweiz ein Beispiel zu nehmen, die sich als Kleinstaat bewährt hat, ohne in einen Minderwertigkeitskomplex zu verfallen, haben die Österreicher und auch, ja vor allem ihre Politiker dem Kleinstaat nicht zugetraut, ohne Aufgehen in einer höheren Einheit zu bestehen.
Österreichs Kleinmut
Die Überzeugung, dass das kleine Österreich nicht lebensfähig sei, war nicht das Ergebnis eines nüchternen ökonomischen Kalküls, sondern eine von vorneherein feststehende Überzeugung, ein Vorurteil, das man hegte und pflegte, um sich nicht auf die Probleme, denen man sich nicht stellen wollte, einlassen zu müssen. Der österreichische Soziologe Friedrich Otto Hertz hat schon damals statistisch untermauert aufgezeigt, dass Österreich durchaus in der Lage gewesen wäre, selbstständig zu bleiben und wirtschaftlich zu überleben. Die Annahme, dass Österreich nicht lebensfähig wäre, war also Ausdruck von Kleinmütigkeit und Unfähigkeit, die eigene Existenz zu bejahen und als Aufgabe anzunehmen, was die Voraussetzung dafür gewesen wäre, dass auch die Nachbarstaaten und die übrige Staatenwelt Österreich als Konstante und nicht bloß als Provisorium wahrnehmen. Denn wer von sich selbst nicht überzeugt ist, ist auch nicht in der Lage, andere von der Notwendigkeit und Nützlichkeit der eigenen Existenz zu überzeugen.
Der mangelnde Lebenswille und Lebensmut rächten sich bitter an Österreich; sie sind nicht zuletzt eine Erklärung dafür, dass Österreich nicht den Mut aufbrachte, einen militärischen Widerstand gegen Hitler zu organisieren und dass auch die Staatengemeinschaft den Verlust und das Verschwinden Österreichs 1938 nicht als das empfand, was es in der Tat war: nämlich der Beginn des Eroberungsfeldzuges Hitlers gegen die gesamte freie Welt.
Jungs Archetypen
Auch die dritte tiefenpsychologische Schule, die "analytische Psychologie", die durch die Person ihres Gründers, des Schweizer Arztes C.G. Jung, eng mit Freud und der Psychoanalyse verbunden war, sich dann aber wie Alfred Adler von ihnen lossagte, eignet sich schon durch ihre zentralen Kategorien, wie die des "kollektiv-Unbewussten" und die der "Archetypen" dazu, zum Verständnis historischer Prozesse beizutragen, besonders des Faschismus und Nationalsozialismus, die sich archetypischer Denkmuster bedienten.
Jedenfalls bestätigt sich die Annahme Freuds, dass die Grenze zwischen Regungen des Seelenlebens und solchen der sozialen Beziehungen fließende Übergänge aufweist. Im krassen Gegensatz zu den sozialen stehen nur die narzisstischen Erscheinungsformen des Seelenlebens, die besonders bei Künstlern im Vordergrund stehen, im Falle des Zustandekommens eines künstlerischen Produkts dann aber auch wieder in soziale Beziehungen am Markt einmünden.
Massen haben im 20. Jahrhundert sowohl zu Befürchtungen als auch zu Hoffnungen Anlass gegeben, so wenn es in einem alten Lied der Arbeiterbewegung verheißungsvoll hieß: "Der Feind, den wir am meisten hassen, der uns umlagert schwarz und dicht, das ist der Unverstand der Massen, den nur des Geistes Strahl durchbricht".
Die Massen haben jedenfalls in Gestalt von Massenparteien, Massenbewegungen und Massendemonstrationen als verhetzte und gehetzte, aber auch als hetzende Massen seit dem 20. Jahrhundert nicht aufgehört, ein wirkmächtiges Element der politischen Wirklichkeit zu sein und als Gestalter, aber auch als Opfer der Weltgeschichte zu fungieren.
Norbert Leser, geboren 1933, lebt als emeritierter Professor für Sozialphilosophie und Präsident des Universitätszentrums für Friedensforschung in Wien. 2011 erschien "Skurrile Begegnungen. Mosaike zur österreichischen Geistesgeschichte", Böhlau Verlag, Wien.