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Von Mythen, Märchen und Politik

Von Walter Hämmerle

Politik

Nichts ist einfacher, als die Welt in all ihrer Komplexität und Vielschichtigkeit abzubilden und zu beschreiben. Unzählige Wissenschafter und Journalisten tun nichts anderes, als jedem Hakenschlag der Realität hinterher zu laufen. Nichts ist dagegen schwieriger, als diese komplizierte Wirklichkeit in glaubwürdige, greifbare und für jedermann verständliche Bilder zu verdichten und auf den Punkt zu bringen. Mythen dienten seit jeher diesem Zweck - auch und vor allem in der Politik. In Wahlkampfzeiten werden daher von den Parteien wieder die einfachen Lösungen für komplizierte Probleme aus den Abstellkammern hervorgekramt, um den Wählern Sicherheit und Halt vor den Unwägbarkeiten des Lebens anzubieten.


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Mythen, so schreibt der Grazer Soziologe Manfred Prisching in seinem Beitrag in dem von Oswald Panagl und Robert Kriechbaum herausgegebenen Sammelband "Wahlkämpfe - Sprache und Politik", sind Erzählungen, die uns helfen, die Auseinandersetzungen mit der Natur, der Welt und ihren unerklärlichen Kräften zu bestehen. Sie erzählen nicht notwendigerweise von Göttern und Geistern. Durch Mythen fügen sich die verwirrenden Einzelheiten der Welt endlich wieder zu einem einheitlichen Ganzen.

In der Politik seit jeher notwendig

Wer, wenn nicht Politik in einer komplizierten Welt, hätte an solchen Mythen dringenden Bedarf? Auf diese Weise werden so undurchschaubare Ereignisse wie die Globalisierung, die Entscheidungen Brüssels oder das Denken und Handeln Jörg Haiders wieder allgemein verständlich und für jeden einfachen Bürger nachvollziehbar. Mythen haben daher eine "verständnisfördernde Wirkung", so Prisching.

Besonders in Wahlkampfzeiten werden solche Erzählungen dringend benötigt, ist doch der Bürger aufgerufen, eine Partei seines Vertrauens auszuwählen. Nach geschlagener Wahl ist in der Welt wieder "alles sehr kompliziert", wie ein ehemaliger Kanzler der Republik die Realität zweifellos punktgenau beschrieben hat.

Dazu muss man sich eines bewusst machen: Wahlen entscheiden keine Sachprobleme, sondern sie entscheiden, wer diese entscheidet. An dieser einfachen Tatsachenfeststellung führt kein Weg vorbei. Nur deshalb sind die Bürger auch bereit, Wahlversprechen als das zu verstehen, was sie für Prisching in Wirklichkeit sind und wohl auch sein müssen: "Synonyme für unlautere Behauptungen". So werden jedes Mal aufs Neue wieder mehr Arbeitsplätze versprochen, obwohl doch - um Bill Clintons Wahlkampfmanager Dick Morris zu zitieren - Politiker genauso gut Regen versprechen könnten. Nicht zuletzt deshalb haben Wahlkämpfe keinen guten Ruf.

Auch Politiker müssen "gemacht" werden

Wahlen entscheiden also in erster Linie über Personen. Aber Politiker, so Prisching, entsprechen nur selten von vornherein dem Idealbild eines Spitzenkandidaten. Sie müssen erst zu einem solchen "gemacht" werden. Schließlich wird man nicht als jugendlicher Held, Landesmutter, Retter der Schwachen und Fürsprecher der Armen oder eben als Mann, dem die Welt vertraut, geboren.

Diese "Mythisierung" erfolgt jeweils mit den modernsten Mitteln dramaturgischer Inszenierung. An diesem Punkt kommen nun die Medien ins Spiel.

Für den Wiener Soziologen Roland Girtler leben die Medien von der mythischen Aura der Bösewichte: "Es sind die Mutigen, Frechen, die noch dazu über Charisma verfügen müssen, die ziehen", so Girtler im Gespräch mit der "Wiener Zeitung". In der Vergangenheit habe Jörg Haider diese für die Medien notwendige Rolle mit bis dato unerreichter Perfektion gespielt. Eine "charismatische Führer-Figur" wurde zwar als so genannter "Hecht im Karpfenteich" toleriert und wohl auch durchaus gern gesehen. Dieselben Attribute stießen jedoch auf breite Skepsis, wenn es um die Übernahme von Regierungsverantwortung gehe. Der derzeitige Wahlkampf litt - zumindest bis vor kurzem - nach Ansicht Girtlers an einem Mangel an glaubwürdigen Bösewichten.

Früher, so der Soziologe, sei ein Wahlkampf "wie ein Stierkampf" gewesen. Strahlende Helden kämpften gegen dunkle Mächte und behielten in der Regie der Wahlkampagnen doch jeweils die Oberhand. So kämpfte man - je nach Standpunkt - erfolgreich gegen den "Rentenklau" oder die "rote Flut". Heute jedoch funktionieren diese archaischen Strategien in der Politik nicht mehr. Die plumpe schwarz-weiß-Malerei erscheine den Leuten nicht mehr glaubwürdig.

Politik muss wieder zum Theater werden

Wenn die Politik allerdings wieder zum Theater werde, ließen sich die Menschen auch wieder von ihr faszinieren, glaubt Girtler. Weil die Politik per se jedoch schon längst nicht mehr den hierfür notwendigen eingängigen Stoff liefere, sei es notwendig, die theatralischen Momente zu inszenieren, in denen die Mythen der Politik über gut und böse, wir und die anderen, wieder zum Tragen kommen: Duelle im TV, dramatische Wahlkampfkundgebungen auf historischem Boden - sei dies nun der Stephansplatz, Heldenplatz oder der Viktor-Adler-Markt in Favoriten.

Für Girtler kommt bei diesen Inszenierungen dem politischen "Star" eine besondere Rolle zu: Er hat zugleich volksnaher Tribun und unerreichbares Vorbild, leutseliger Schulterklopfer und respektierter Staatsmann zu sein. Die Kluft zwischen beiden müsse dann eben mit Hilfe kleiner dramaturgischer Tricks, wie etwa dem Einfliegen zu Volksfesten per Hubschrauber, überbrückt werden.

Sprache vereinnahmt, verschleiert und grenzt aus

Neben der Figur des Spitzenkandidaten kommt der Sprache in der Politik eine besondere Bedeutung zu. So dienen Identifikationsformeln zur Schaffung von Einheit und zur Abgrenzung nach außen. Mit Hilfe von Euphemismen lassen unerfreuliche Sachverhalte in ein freundlicheres Licht rücken. In der Sprache der Politik wird auf diese Weise die eigentlich unzweideutige "Preiserhöhung" zur unverfänglichen "Preisanpassung", in der Marktwirtschaft nennt sich dies dann "Preiskorrektur".

Synonymische Unterscheidungen sind vor allem für den innerparteilichen Sprachgebrauch von Bedeutung: Mit Hilfe dieses kleinen Tricks werden idente Tatsachen moralisch unterschiedlich bewertet: Ein "Pakt" wird so vor den eigenen Leuten zum "Bündnis" für oder gegen etwas, "Flexibilität" verkommt zum "Opportunismus", die "Meinungsänderung" gerät unter der Hand zum "Wortbruch" und das "Offenhalten aller Koalitionsoptionen" wird - je nach Notwendigkeit - zum "wir sind von keiner Partei das Beiwagerl" oder "für die Macht steigt die Partei xy mit jedem ins Bett". Der Standpunkt bestimmt eben das Bewusstsein.

Von Sonnenkönigen und Gründervätern

Ist die Gegenwart gar zu trist, greift man gerne auf strahlende Leitfiguren der Vergangenheit zurück - vor allem dann, wenn ihr Andenken weitgehend einer unkritischen Huldigung gewichen ist. Was der "Sonnenkönig" Bruno Kreisky für die SPÖ, sind die Gründerväter der Republik Leopold Figl und Julius Raab für die ÖVP. Die Grünen halten ihre Anfänge an den Lagerfeuern in der Hainburger Au hoch, und die FPÖ hat ihren ganz eigenen Mythos in der Person Jörg Haiders konserviert.

Warum all diese Strategie auch heute noch funktionieren? Weil, glaubt man dem österreichischen Ökonomen Josef Schumpeter, die Menschen zwar in ihren wirtschaftlichen Angelegenheiten nach ihren Eigeninteressen handeln, sobald sie jedoch den politischen Bereich betreten auf eine "tiefere Stufe der gedanklichen Leistung" fallen. Und über derlei "Rationalitäteinschränkung" haben - so Prisching - Politiker schon immer Bescheid gewusst, weil es ihr alltägliches Geschäft ist.

Literaturtipp:

"Wahlkämpfe: Sprache und Politik", hrsg. v. Oswald Panagl und Robert Kriechbaum, Wien 2002.