Über Jahre ordnete die ÖVP Sebastian Kurz alles unter. Was wird nach der Implosion aus der Partei?
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Im Sommer schien die Welt noch in Ordnung. Die Corona-Infektionszahlen gingen zurück, Impfstoff gab es endlich zur Genüge. Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) hatte gerade mehrere Erleichterungen bei den Pandemie-Maßnahmen verkündet, als ÖVP-Generalsekretär Axel Melchior, ein enger Vertrauter von Kurz, in der Politischen Akademie der Volkspartei zum Hintergrundgespräch lud. Vorgestellt wurde da auch die türkise Sommerkampagne. Plakate vom Kanzler im Gespräch mit Menschen, "mit neuer Kraft" lautete das Motto. Bis zum türkisen Bundesparteitag Ende August würden Kurz und seine Ministerriege durch alle Bundesländer touren. Man spüre eine große Aufbruchstimmung, sagte Melchior.
Gut drei Monate später ist nichts mehr in Ordnung in der türkisen Welt. Sebastian Kurz, jener Mann, dem die zuvor darniederliegende ÖVP ihre Erfolgssträhne der vergangenen Jahre zu verdanken hat wie keinem Zweiten, ist gefallen. Noch scheint so etwas wie Schockstarre zu herrschen in den Reihen der Volkspartei. Das, was man all die Jahre nicht für möglich gehalten hat, ist nun tatsächlich eingetreten: Kurz, der Umfragenkaiser, ist nicht mehr Kanzler. Und wird es, zumindest in dieser Legislaturperiode, auch nicht mehr werden. Das stellte die grüne Klubchefin Sigrid Maurer bereits klar.
Es wird dauern, bis diese neue Realität überall angekommen ist. "Man muss auch sagen: Wir haben in dieser Republik schon erlebt, dass ein Bundeskanzler, gegen den als Beschuldigter ermittelt wurde, noch jahrelang im Amt war", sagt ein Türkiser mit Blick auf den früheren Kanzler Werner Faymann (SPÖ).
Aber der Prozess schreitet voran. Zügiger als zunächst gedacht. Von den anfänglichen Beschwichtigungen beim Aufbrechen der Umfrage- und Inseratenaffäre vergangene Woche bis zum Rücktritt des Kanzlers am Samstagabend dauerte es drei Tage. Die türkisen Dämme hatten da ringsum bereits begonnen zu brechen. Hatte Tirols Landeshauptmann Günther Platter Ende vergangener Woche noch - wenn auch in einem alles andere als überzeugt klingendem Statement - Kurz die Unterstützung der ÖVP-Landeshauptleute zugesichert, rückte er am Dienstag auf bemerkenswerte Weise persönlich von ihm ab. Es gebe "schwerwiegende Vorwürfe, die man nicht wegwischen kann", sagte Platter. Und hielt fest, dass er selbst "ein Schwarzer" sei, der "schon immer andere Anschauungspunkte" als die türkise ÖVP gehabt habe.
Die alte, schwarze Volkspartei, zumal in den Ländern, hat also auch auf der Vorderbühne mit der Abkapselung von Kurz und seinem engsten Umfeld begonnen. Viele Beobachter halten es zudem für nicht unwahrscheinlich, dass Kurz seinen Posten als Klubobmann der ÖVP mittelfristig räumen wird. Noch ist davon keine Rede. Am Donnerstag wird er im Parlament angelobt, und natürlich werde Kurz auch in parlamentarischen Fachausschüssen sitzen, hieß es am Dienstag aus dem ÖVP-Klub zur "Wiener Zeitung".
In der aktuellen Konstellation ist die Partei aber keineswegs aus der Schusslinie gebracht. Ein weiteres Festhalten am jungen Altkanzler könnte sich negativ auf den Neustart der ÖVP auswirken. Wie aber kann es mit einer Partei weitergehen, in der über Jahre alles auf Kurz zugeschnitten war, von der inhaltlichen Aufstellung bis zu den Statuten, die sich Kurz in gewisser Weise unterworfen hat, wie es zuletzt in vielen Analysen hieß? Und für die es bislang keinen Plan B nach Sebastian Kurz gab?
Koalition wird sich "drüberquälen"
"Es ist ein Sickerprozess", sagt ein ÖVP-Funktionär zur "Wiener Zeitung". In der Öffentlichkeit werde die Angelegenheit für den neuen Bundeskanzler Alexander Schallenberg nicht einfach - sein Vorgänger hatte sich nach Kritik der Opposition gar bemüßigt gefühlt, per Aussendung festzuhalten, "kein Schattenkanzler" zu sein. Auch die Befindlichkeit in der Koalition werde sich wohl kaum konstruktiv auf politische Entscheidungsprozesse auswirken. "Sie werden sich wohl irgendwie über die nächsten Wochen drüberquälen", sagt der Funktionär.
Kurz wird als Klubobmann eine bedeutende Rolle spielen, vielleicht sogar dominierende, wie die Opposition vermutet. Die Frage ist allerdings, wie lange dieses Modell in der Koalition funktioniert und wie lange es auch für seine Partei funktioniert. Neben zwei drohenden Anklagen der Justiz bleibt auch stets ein weiteres Damoklesschwert: Welche kompromittierenden Chats könnten noch auftauchen?
Nicht nur den schwarzen Landeshauptleuten scheint das inzwischen ein deutlich zu großes Risiko zu sein. Das Verfahren bei einer möglichen Anklage könnte - siehe Karl-Heinz Grasser - viele Jahre dauern. Begleitet von permanenter medialer Berichterstattung, einem neuen parlamentarischen Untersuchungsausschuss und zermürbenden Befragungen scheint ein Ex-Kanzler, der wie der Phönix aus der Asche in alte Höhen aufsteigt, kaum noch realistisch. Hinzu kommt der Knalleffekt durch die Festnahme der Meinungsforscherin Sabine Beinschab, die in der ÖVP-Affäre als Beschuldigte geführt wird. Für sie, wie auch für die anderen Beschuldigten, gilt die Unschuldsvermutung.
Antreten bei Neuwahl unwahrscheinlich
"Dass Kurz als nächster Spitzenkandidat in eine Neuwahl geht, halte ich für ausgeschlossen", sagt ein ÖVP-Mitglied. Der steirische Landeshauptmann Hermann Schützenhöfer hatte sich am Sonntag ähnlich geäußert. Der Prozess, das innerhalb der Partei zu akzeptieren, könnte nach den erfolgsverwöhnten vergangenen Jahren schmerzhaft werden. Zu einem anstehenden Erneuerungsprozess gehört indessen nicht nur die Abkehr vom einstigen Solo-Zugpferd Kurz, sondern auch der Austausch seiner engsten Mitstreiter. Mit der "Beurlaubung" des bisherigen Kurz-Pressesprechers Johannes Frischmann und des Medienbeauftragten Gerald Fleischmann, der seine Funktion bereits zurückgelegt hat, sind erste Schritte in diese Richtung vollzogen. Weitere könnten folgen.
Eine Besonderheit bei der Kür von Kurz zum Bundesparteiobmann 2017 war: Mit einer Statutenänderung wurden ihm Kompetenzen zugestanden, die noch kein Parteichef vor ihm hatte. So durfte er selbständig die Bundesliste für die Nationalratswahl erstellen, bei den Landeslisten erhielt er ein Vetorecht. Die Folge davon: Nicht nur in den Ministerämtern, auch im Nationalrat saßen fortan überdurchschnittlich viele Kurz-Vertraute. "Natürlich waren da auch ein paar Glücksritter dabei", sagt ein türkiser Mandatar.
In einem Buchbeitrag zur Wahl 2017 schrieb der damalige Leiter der türkisen Kampagne, Philipp Maderthaner, eine der zentralen Entscheidungen von Kurz schon für den Wahlkampf sei es gewesen, "diese Kampagne mit Menschen zu führen, die einander kennen, einander vertrauen".
JVP bekam unter Kurz tragende Rolle
Seine späteren Vertrauensleute kannte Kurz häufig schon aus einer Organisation, die für seinen eigenen Aufstieg entscheidend war: die junge ÖVP, deren Vorsitz Kurz von 2009 bis 2017 hatte. Die JVP nutzte der spätere Kanzler gezielt für seine Netzwerke, heute gilt sie als eine der mächtigsten Teilorganisationen innerhalb des parteiinternen Bündesystems. Zum Teil gelang das in der Ära Kurz auch mit einer Professionalisierung der JVP, in der man etwa auf Mentoringprogramme setzte, um den angehenden Funktionärinnen und Funktionären das politische Handwerk zu lehren. "Das waren sieben oder acht Wochenenden über ein Jahr verteilt", erzählt einer, der damals dabei war.
Bei der Suche nach neuem Personal könnten nun auch die Bundesländer zum Zug kommen. Wobei eine Variante, die zeitweise aus den schwarzen Ländern selbst ventiliert wurde, nämlich den Salzburger Landeshauptmann Wilfried Haslauer zum nächsten Bundesparteiobmann zu machen, aus mehreren Gründen als nicht sehr wahrscheinlich gilt. Erstens ist Haslauer mit 65 Jahren nicht mehr ganz im Alter, um als Zukunftsversprechen der Volkspartei durchzugehen. Zweitens lastet ihm ein Image als eher biederer und etwas grauer Technokrat an, was zwar eine Abgrenzung zur Ära Kurz symbolisieren könnte, aber - ganz im Gegensatz zu diesen Jahren - das Stimmen-Potenzial der ÖVP wohl wieder näher Richtung Kernwählerschaft verschieben würde.
Und drittens halten viele in der Partei es für unwahrscheinlich, dass sich einer der Landeshauptleute die Bundesobmannschaft antun würde. "Die kennen Wien nicht wirklich. Es würde erst einmal ein Jahr dauern, bis sie dort gelandet sind", sagt ein Insider. "Da muss eine neue Generation her." Die Grundsteine dafür wurden in den vergangenen Jahren aber durchaus gelegt - auch durch Kurz.