Psychologe: Politik handelte vernünftig, aber zu spät. | "Wiener Zeitung": Wie lässt sich aus Sicht eines Wirtschaftspsychologen beschreiben, was derzeit an den Börsen passiert?
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 16 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Rainer Buchner: Ein Krisenprozess lässt sich in vier Phasen beschreiben: Zuerst regiert die Routine. Wir glauben, alles geht ohnehin weiter. Danach folgt die Abwehr-Phase, in der die Heilsversprecher so tun, als ob die Krise bald wieder vorbei wäre, und die Schwarzmaler noch Schlimmeres prophezeien. Beides mündet in Verunsicherung. Und diese Verunsicherung führt in die Phase des blinden Aktionismus: Jeder hört oder liest etwas und agiert völlig unüberlegt, zieht das Geld von den Banken ab oder versteckt es unter der Matratze. Die vierte Phase, die Panikphase, legt uns lahm. Was sich an den Finanzmärkten abspielt, ist schon sehr nahe an der Panikreaktion.
Warum haben Hilfspakete und Leitzinssenkungen die Märkte nicht beruhigt?
Die Maßnahmen, die die Politik gesetzt hat, sind sehr vernünftig, aber sie kommen zu spät, denn die Investoren haben ihre Entschlüsse gefasst. Eine Botschaft greift nicht in dem Moment, in dem ich sie verkünde, sondern erst mit Verzögerung. Es ist vergleichbar mit einer Tierherde: Hier reicht es nicht aus, dass die Vorderen anhalten, auch die Nachdrängenden müssen stehen bleiben. Gleichzeitig ist unser Verlustwertgefühl zehnmal stärker als das Gewinnwertgefühl. Auch wenn ein Gewinn von 10.000 Euro möglich wäre, unternimmt die Allgemeinheit alles, um 1000 Euro nicht zu verlieren.
Welche Schritte hätte die Politik früher setzen müssen?
In Zeiten des Neokapitalismus, in denen ethische Regeln nicht mehr durchsetzbar sind, kann nur die Politik durch Kontrollen und verstärkte Regulierungen eingreifen.
Es ist erwiesen, dass in Zeiten existenzieller Ängste Glücksspiele und Wahrsagertum blühen - was beweist, dass die Hoffnung lebt. Vertrauen kann entstehen, wenn politische Aussagen solidarisch erfolgen und die Wirtschaft vernünftig und ruhig handelt. Dann wird auch der freie Fall an den Börsen enden.
Zur Person
Rainer Buchner leitet das Salzburger Privatinstitut für Wirtschaftspsychologie und berät Organisationen bei Krisen und Veränderungsprozessen.