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Von seriöser Ermittlungsarbeit und den Monstern, die die Medien kreieren

Von Christian Rösner

Analysen

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Vor wenigen Tagen noch - zum fünften Jahrestag der am 27. Juni 2006 verschwundenen Julia Kührer - war der Fall für die Polizei ein Rätsel. "Es fehlt der Ermittlungsansatz", hat es da geheißen.

Doch am vergangenen Freitag ging es Schlag auf Schlag: In der Nähe von Julia Kührers Wohnort wurde durch Zufall im Keller eines Hauses ihr Skelett gefunden. Und eine Verhaftung gab es auch: Der Besitzer des Hauses wurde sofort festgenommen - und noch bevor seine Befragung abgeschlossen war, berichteten die Medien schon über das "sonderbare Verhalten" des Mannes und stellten den früheren Videothekbetreiber an den Pranger: Die Anrainer wurden befragt und verpassten dem Mann, nach dem Motto "ich hab’s ja schon immer gewusst", ein denkbar schlechtes Zeugnis: "proletenhaftes Aussehen", ein "eigener Mensch" mit einem "eigenen Schmäh" - und zu Frauen sei er "immer anders" gewesen, "ordinär", hieß es.

Der Ortsvorsteher sprach von einem großen Mercedes, mit dem der Mann in den Ort gekommen sei. Junge Mädchen seien bei ihm ein und aus gegangen. "Dann war das Haus plötzlich verlassen und er weg."

Eine Nachbarin berichtete, dass der Verdächtige einen Kampfsport betreibt, der in Österreich verboten ist - es sollen sogar Kampfhandlungen in einem Käfig im Hinterzimmer der Videothek stattgefunden haben.

Dazu wurde im Fernsehen sogar das Haus des Mannes in Wien-Floridsdorf gezeigt, in dem er jetzt wohnt. Selbst am Montag, einen Tag nach der Entlassung des 50-Jährigen, war zu lesen, dass der Verdächtige "zum Entsetzen vieler" enthaftet wurde: "Provinzrichter ließ Ex-Videothekenbesitzer einfach laufen."

So stellt sich der heimische Boulevard also einen Verbrecher vor: Ein ordinäres, Mädchen entführendes, illegale Käfigkämpfe organisierendes Monster mit proletenhaftem Aussehen. Und es wurde freigelassen. Rufzeichen.

Bereits am 10. Mai 2010 wurde ein im Zusammenhang mit dem Fall Kührer in Verdacht geratenes junges Pärchen verhaftet, das nur zwei Tage später wieder freigelassen wurde, weil die Indizien "für einen hinreichend dringenden Tatverdacht" nicht ausreichend waren. Aber die Fotos der Jugendlichen gingen trotzdem durch alle Medien.

Dass die Polizei jedem Verdacht nachgehen und den Besitzer eines Hauses, in dem eine Leiche gefunden wurde, befragen muss, versteht sich von selbst. Dass aber vonseiten der Medien Sensationsgier vor Fairness und Seriosität gestellt wird, weniger. Denn falls der Verdächtige tatsächlich unschuldig ist, wird er sein Leben lang mit dem Tod von Julia Kührer in Verbindung gebracht werden. Da helfen ihm dann keine Entschuldigungen mehr, kein Schadenersatz, keine Richtigstellung. Und auch wenn sich seine Schuld herausstellen sollte, bliebe es trotzdem eine Vorverurteilung.