Industrie baut Städte. In Berlin zumindest ganze Stadtteile. Und die erzählen Geschichte oft auf viel lebendigere Weise als sämtliche Lehrbücher über Sozial- und Stadhistorie.
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Es begann in einem Kreuzberger Hinterhof vor genau 160 Jahren. Der 31-jährige Ingenieur Werner aus Hannover und der zwei Jahre ältere Hans, gelernter Mechaniker aus Hamburg, richteten eine gemeinsame kleine Werkstatt ein, gründeten die "Telegraphen Bau Anstalt" und stellten zehn Leute ein. Hans und Werner ergänzten einander in idealer Weise: Der Ingenieur brachte die Ideen ein, der Mechaniker wusste daraus praktikable Erzeugnisse herzustellen. Mehr noch: Trotz späterer geschäftlicher Divergenzen blieben sie persönliche Freunde bis an ihr Ende.
Die kleine Firma von damals - sie nannte sich nach ihren beiden Gründern Siemens & Halske - ist heute ein global Player mit rund einer halben Million Mitarbeitern und einem Jahresumsatz von fast 90 Milliarden Euro.
Das Berliner Traditionsunternehmen hat längst seine Zentrale nach München verlegt. An der Spree verblieben aber ist ein Stück Sozial- und Baugeschichte, das einem ganzen Stadtviertel, der "Siemensstadt", nicht nur Namen, sondern auch Gesicht gegeben hat.
Nähert man sich vom Tegeler Flughafen kommend dem Stadtkern, erblickt man rechterhand einen weithin sichtbaren, 75 Meter hohen Uhrturm im braunroten Klinkermantel des typischen Berliner Industriebauten-Stils: Das Wahrzeichen expandierenden, ja explodierenden Gründertums, die selbstbewusste Landmarke des bereits international aufgestellten Siemens-Konzerns.
Nachdem Kreuzberg zu eng geworden war, ging Siemens 1899 nach Spandau; die "Nonnenwiesen" des ehemaligen Benediktinerinnen-Klosters waren billig zu haben. Siemensstadt entsteht - Industrieanlagen und Werksiedlungen für die Mitarbeiter. "Heimat" heißt ausdrücklich ein Teil der Siedlung. Der moderne Unternehmer will seinen Leuten und deren Familien mehr bieten als nur Lohn und Brot: Die Heimat des Siemens-Mannes ist Siemensstadt.
Der "Anzeiger für das Havelland" schreibt am 1. August 1913: "Dort hinter der Spree erheben sich gewaltige Gebäude in rotem Backsteinbau; vier- und fünfstöckige Gebäude von mehreren hundert Metern Front und lange Maschinenhäuser dehnen sich aus. Ein Kanal führt bis zu den Werken und unzählige Eisenbahnschienen durchqueren die weiten Gelände. Das ist die Siemensstadt."
Heute leben in dieser Großsiedlung rund 12.000 Menschen. In einer Architekturlandschaft, die der Zeit ihrer Entstehung weit voraus war: Man sollte dort nicht nur billig wohnen können, sondern auch möglichst nahe am Grün. Und das ist mehr als gelungen: Siemens-Park und Jungfernheide lassen vergessen, dass man sich in einer Stadt befindet oder gar in einem Industriegebiet. Stattdessen Wald und See, Busch und Heide.
Apropos Wald: Ein ähnliches Projekt liegt zehn Kilometer entfernt nordöstlich - "Borsigwalde", die zwischen 1899 und 1909 errichtete Kolonie für Arbeiter und Angestellte der Borsigwerke, 80 Mietskasernen für 4000 Menschen.
Noch heute findet man ein Fassadenbild mit zwei- bis dreistöckigen Wohnhäusern in gotisch-barockem Stilmischmasch. Allerdings gab es in der Anfangsphase zahlreiche Probleme: Keine Kanalisation, keine Wasserleitungen, keine Müllabfuhr. Das Wasser wurde aus Trinkwasserbrunnen gewonnen, der Müll und die Fäkalien wurden auf den Höfen vergraben, was zu Typhus-Fällen in der Arbeiterkolonie führte. Dennoch: Zu jeder Wohnung gehörte hinter dem Haus ein kleiner Garten, in dem die Arbeiter Gemüse für den eigenen Verbrauch anbauen konnten.
Borsigwalde, Spindlersfeld oder Siemensstadt, städtebauliche Zeugen einer längst vergangenen Zeit der Industrialisierung, deren stolze Hauptstadt Berlin einst war.