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Die Staatspartei des russischen Regierungschefs Wladimir Putin bastelt derzeit an einem Gesetz, das Zweifel an Stalins militärischem Genie mit Haft bis zu drei Jahren ahnden soll. Zum 64. Jahrestag des Sieges über Hitlerdeutschland legte Präsident Medwedew mit der Feststellung nach, dass "Geschichtsverfälschungen" nicht zu dulden sei.
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Just dies betreibt aber Russland bis heute, weil Stalin lediglich an zwei Fakten gemessen wird: Eben am Sieg im "Vaterländischen Krieg" und an der so genannten "Entstalinisierung" von 1956, die Stalins Verbrechen auf seinen "Personenkult" reduzierte und am totalitären System nichts änderte. Von "Aufarbeitung" der Ära Stalin also keine Spur.
In seinem immer noch "selektiv" behandelten Testament bezeichnete Lenin Stalin als einen für höhere Aufgaben ungeeigneten Rüpel. Mit seiner Massenkollektivierung von 1930 löste Stalin eine Hungersnot aus, der Millionen Menschen zum Opfer fielen. 1934 führte Stalin die Sippenhaftung und die Pflicht zur Denunzierung ein. In der Großen Säuberung von 1935 bis 1938 ließ Stalin 680.000 höhere Parteikader und rund drei Viertel der Berufsoffiziere bis hinauf zum Generalskorps liquidieren. Dieser fürchterliche militärische Aderlass kam das Volk bei Hitlers Überfall 1941 teuer zu stehen.
Zu dieser Katastrophe trugen verheerende Fehler Stalins bei: Als Besserwisser schlug er Warnungen zumal Englands und seines Meisterspions Sorge in den Wind, dass ein Angriff unmittelbar bevor stehe. Er disponierte seine Armee derart falsch, dass Hitler erst die sowjetische Luftwaffe auf dem Boden zerschlagen und dann die Rote Armee in Kesselschlachten dezimieren konnte. Und allen Warnungen zum Trotz sah er dem erkennbaren Aufmarsch Hitlers untätig zu und wurde deshalb auch taktisch überrumpelt.
Nach der Maxime, dass die Partei das Militär kommandiert, dekretierte Stalin, dass die nach Zehntausenden zählenden Politkommissare in der Armee jeden Rotarmisten auf der Stelle erschießen müssten, sollte er sich aus "Feigheit" aus der Kampflinie zurückziehen. Und jenen sowjetischen Soldaten, die in Gefangenschaft geraten, kündigte er Verfahren wegen "Desertion" an. Hunderttausende dieser "Deserteure" wanderten nach 1945 von deutschen Gefangenenlagern in den "Archipel Gulag" und Zehntausende von ihnen wurden liquidiert.
Nicht zu vergessen der Angriffskrieg gegen Finnland im Spätherbst 1941, den die haushoch überlegene Rote Armee nach der Eroberung der karelischen Landenge abbrechen musste. Präsident Medwedew stoßen "Geschichtsverfälschungen" auf. Prima! Dann kann er doch damit beginnen, das "kollektive Gedächtnis" der Massen mit der 21-jährigen Vorgeschichte von Stalins Sieg 1945 anzureichern.
Clemens M. Hutter war bis 1995 Ressortchef Ausland bei den "Salzburger Nachrichten".