Eines kann man den Tschechen auf keinen Fall nachsagen: dass es ihnen an Fantasie mangeln würde. Man braucht sich zum Beispiel nur die Namen der Restaurants und Gasthäuser in den winkeligen Gässchen der Prager Kleinseite anzusehen.
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Da gibt es die "Zwei Sonnen" und den "Weißen Löwen", das "Schwarze Pferd" und das "Blaue Entlein". Man kann auch "Beim Schuster Matous" oder bei der "Seilerin" essen. Besonders angetan aber hat es mir das Gartenrestaurant "Vsebaracnicka Rychta" im Gewirr der Gässchen zwischen Neruda Gasse und der Deutschen Botschaft in der Vlasska, der Welschengasse. Das dicke tschechisch-deutsche Wörterbuch kann mir keine Auskunft über die deutsche Bedeutung dieses vertrackten Namens geben. Auch tschechische Freunde mit guten deutschen Sprachkenntnissen tun sich da schwer. Sie umschreiben diese altertümliche Bezeichnung als den dörflichen Treffpunkt der Vereinigung der Häuschen-Besitzer. Diese Vereinigung muss viele Mitglieder haben, denn als ich dort zu Abend essen will, herrscht in dem Saal ein höllischer Lärm und es gibt für mich einfach keinen Platz mehr.
Viel Phantasie scheinen auch die Hoteliers zu haben, jedenfalls, was die Preise betrifft. Auch in der kleinsten Herberge auf der Kleinseite und in der Umgebung des Hradschin ist jetzt in der Hochsaison kein Doppelzimmer unter 4.200 Kronen zu haben, und das sind rund 140 Euro. Wenn ein solches überhaupt zu haben ist.
Zugegeben: Kleinseite und Hradschin gehören zu den touristischen Hauptattraktionen in der an Sehenswürdigkeiten so reichen Stadt an der Moldau. Und das wird halt ausgenützt. Preisliche Unterschiede je nach der Qualität der Hotels und der angebotenen Zimmer gibt es nicht und damit sozusagen auch keinen freien Markt auf diesem Gebiet. Dafür aber eiserne Solidarität.
Die zeigen auch die Taxifahrer, vor allem dort, wo man auf sie angewiesen ist, wie vor den Bahnhöfen. Frägt man nach dem voraussichtlichen Preis für die angegebene Strecke, so wird mit großer Geste auf den Taxameter hingewiesen. Und dann zahlt man, wie diese Uhr anzeigt, sagen wir 260 Kronen. Um dann gelegentlich bei einer Fahrt in genau umgekehrter Richtung 100 Kronen weniger zu zahlen. Des Rätsels Lösung könnte man in diesen Tagen in den Prager Zeitungen finden: In vielen Taxis ist die Uhr auf das Perfekteste manipuliert. Sie zeigt zwar bei Fahrtbeginn die übliche Grundtaxe an, im Laufe der Fahrt läuft die Uhr aber viel schneller als normal zulässig. Was man dageben tun kann? Nichts. Es wäre denn, man beherrscht halbwegs die Landessprache, sodass man einen Preis unabhängig von der Uhr vereinbaren kann. Aber wie gesagt: nur selten gelingt es einem, die Solidarität der Taxler zu durchbrechen.
Nur ältere Menschen
sagen Touristen den Weg
In Prag frage ich nur noch alte Damen nach dem Weg. Die jungen sind indolent und wissen nicht Bescheid.
Ich will zum Vitkov-Berg, der langgestreckten Erhebung zwischen den Stadtteilen Karlin und Zizkov. Er hat seine historische Bedeutung, denn dort vernichteten am 14. Juli 1420 die Hussiten unter Führung von Jan Zizka von Trocnov das vom römisch-deutschen Kaiser Sigismund und Papst Martin V. aufgehobene Kreuzritter-Heer. Es war der erste der vielen Siege der "böhmischen Ketzer" über Kaiser und Kirche.
Die jungen Damen in den Informationsstellen schicken mich mit der Metro zur Station Florenc, dort sollte ich die Straßenbahn nemen. Aber keine sagt mir, wo ich in dem Gewirr der sich überschneidenden Straßen, Straßenbahnen und Autobuslinien die richtige Straßenbahn finde. Schließlich hilft mir hier eine alte Dame und eine andere zeigt mir den zwischen den Häusern versteckten Anstieg auf den Berg.
Außer einem Reiterstandbild Jan Zizkas gibt es dort aus jüngerer Zeit eine nationale Gedenkstätte für die gefallenen des 1. Weltkrieges und der im 2. Weltkrieg gefallenen Sowjetsoldaten und Vorkämpfer des Sozialismus in Form eines mächtigen weißen Kubus. Die Kommunisten wollten dort auch noch ihrem Führer und Staatspräsidenten Klement Gottwald ein Mausoleum errichten. Dieser Plan fiel aber der "Entstalinisierung" zum Opfer.
"Über die Hussiten haben die jungen Leute nichts Richtiges gelernt und von den Kommunisten wollen sie nichts mehr wissen. So ist ihnen auch die Vitkov-Berg gleichgültig", sagen mir Freunde. Eine Bestätigung für diese Erklärung bekomme ich bei der Rückkehr ins Stadtzentrum. Ich finde eine Straßenbahn, die direkt zum Museum führt. Mit ihr hätte ich auch bequem zum Vitkov-Berg fahren können. Das wusste aber nicht einmal die junge Dame im Informationszentrum beim Museum.
Benes-Dekrete in der
Bevölkerung kein Thema
Man hat in diesen Frühlingstagen in Prag nicht den Eindruck, dass sich die Bevölkerung über die Debatten um die Benes-Dekrete besonders aufregt. Das Entscheidungsspiel zwischen Sparta-Prag und Vitkovice in Nord-Mähren um die Eishockey-Meisterschaft hat die Gemüter jedenfalls mehr in Wallung gebracht.
Die ominösen Dekrete und die Vertreibung der Sudetendeutschen und der Ungarn in der Slowakei sind allerdings bei den Politikern und in den Medien nach wie vor ein großes Thema. Schließlich gibt es Neuwahlen ins Parlament (am 16. Juni), und da glauben vorallem die großen Parteien, mit dem Ausspielen der nationalistischen Karte bei den Wählern gut anzukommen. Dabei versteigt man sich gelegentlich zu grotesken Geschichtsinterpretationen. So sieht der Vorsitzende der regierenden Sozialdemokraten Vladimir Spidla in den deutschen Minderheiten die Ursache der Instabilität und Spannungen in Mitteleuropa, die schließlich zum 2. Weltkrieg geführt hat. Die "Entfernung" dieser Minderheiten durch Beschluss der Sieger sei daher "richtig" gewesen.
In den Zeitungen hingegen wenden sich die meisten Publizisten entschieden gegen das Schüren nationalistischer Emotionen und den Rückgriff auf die Feindbilder der Vergangenheit. Das sei eine Politik, die nicht in die Zukunft, sondern eher weg von Europa und der EU führe, in die man doch eigentlich eintreten wolle. Man kann also gespannt sein, wofür sich die Mehrheit der Wählerschaft im Juni entscheiden wird: für ein nationales Selbstverständnis, das in der Vergangenheit wurzelt oder für ein Tschechien, das seinen Platz in der von der EU getragenen neuen Ordnung hat.