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Von Zauderern und Brückenbauern

Von Karl Pangerl

Gastkommentare
Karl Pangerl ist AHS-Lehrer in Oberösterreich. Der vorliegende Text entstand in Zusammenarbeit mit dem WPG-Geografie-Team 2019/21 des BG Vöcklabruck (Idee: Daniel Baumann und Igor Pranjic).
© privat

Statt Menschen gegeneinander auszuspielen, sollte das Verbindende gesucht werden.


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Wenn der Kanzler Ungeimpfte als "Zauderer und Zögerer" bezeichnet, ist dies in mehrfacher Hinsicht bemerkens- und bedenkenswert. Volk und Spitzenfunktionäre haben sich entfremdet. "Mündige Bürger" mutierten über "mündige Konsumenten" zu "Humankapital", aus den "lieben Österreichern" wurde "Pöbel". In Anlehnung an Franz Grillparzer ein Rückschritt von Humanität über Objektivierung zur Entmenschlichung. Doch das Land hat sich seit dem Abgesang auf die Zweite Republik auch seiner selbst entfremdet. Die "Insel der Seligen" wurde zum Schmähbegriff, wiewohl nur durch Traumata und harte Arbeit hindurch die Träume von Freiheit, Gerechtigkeit, Wohlstand und Einsatz für Frieden, Dialog und Zusammenarbeit Realität wurden.

Die Rückkehr zu Freiheit und Normalität wird beschworen. Doch Freiheit entspringt dem Gewissen. Nach dem Zeitalter der Moderne gilt es eine neue Epoche aufzubauen. Es geht über den Klimawandel hinaus um einen Kulturauftrag im Begreifen, dass jeder auf seine Weise Kultur trägt und gestaltet. Dazu bedarf es einer Hinwendung vom Primat der repräsentativen Demokratie zu einem Politikverständnis des Ermöglichens und der Partizipation. Verantwortung wird eingemahnt mit der impliziten Anklage, wer sich nicht impfen lasse, hätte zu gewärtigen, am Tod anderer schuld zu sein. Dies verschweigt, wie viele Ungeimpfte im Bewusstsein ihrer Verantwortung anderen gegenüber freiwillig auf vieles verzichten. Man erspart sich, Ursachen für den Infektionsanstieg zu benennen. Und es macht jene mundtot, die Gefahr fürs eigene Leben befürchten.

Der lateinische "cunctator" bezeichnet nicht nur den Zauderer und Zögerer, der, in Bedenken gefangen, nie zur Tat findet. Er schließt auch den Besonnenen mit ein, der Dinge in ihrer Vielschichtigkeit reflektiert und gelernt hat, abzuwarten und nicht die Lösung im Erstbesten zu suchen. Die Betroffenheit des medizinischen Personals ist unwidersprochen; aber umgekehrt ist es eindimensional, sich auf die Impfung - diese Art der Impfung - als alleinige Lösung zu fixieren. Sebastian Kurz und Rudolf Anschober verglichen die Pandemie mit einem Marathon. Die Strategie war nie, das Virus zu neutralisieren; es ging um erkaufte Zeit im Sinne einer Balance zwischen Wirtschaft, Gesundheit und systemischen Kapazitäten. Dann aber lautet die Frage nicht "Impfung - ja oder nein?", sondern es geht um eine Entwicklung hin zu differenzierten Formen der Prävention und Behandlung, die alle akzeptieren. Der Weg dorthin ist ein zukunftsoffener, demokratischer, gesellschaftlicher Verwandlungsprozess in einem komplexen soziokulturellen Gefüge, bei dem polarisierende Zuspitzung das unabdingbare Miteinander konterkariert.

"Leben und leben lassen" - diese österreichische Tugend beruht auf dem Dualismus von Verantwortung und Vertrauen. Gutmenschen, Intellektuelle, Zuwanderer, Sozialschmarotzer, Ungeimpfte - zu lange zehrt die Politik schon davon, abstrahierte Minderheiten und Mehrheiten gegeneinander auszuspielen. Es ist Zeit, Brücken zu bauen - zwischen Bürgern und Politik, zwischen Österreich und Europa, in die Zukunft.