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Vor 30 Jahren ging Chiles Demokratie zu Bruch

Von Werner Hörtner

Politik

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Vor genau 30 Jahren, am 11. September 1973, ging in Chile das Experiment des "friedlichen Weges zum Sozialismus" in einem Blutbad unter. Führten innere Widersprüche zum Scheitern von Allendes Regierung der Volkseinheit oder der gewalttätige Widerstand der mächtigen inneren und äußeren Klassenfeinde? Auch 30 Jahre nach dem Staatsstreich des Militärs unter General Augusto Pinochet und 13 Jahre nach dem Ende der blutigen Diktatur ist Chile ein gespaltenes, gesellschaftliches polarisiertes Land. Was war nun passiert in diesen wenigen Jahren, in denen der sozialistische Präsident Salvador Allende in einem politischen Kampf ohne Gewaltanwendung eine Republik des werktätigen Volkes errichten, eine neue Gesellschaft aufbauen wollte?

Venceremos!

4. September 1970 - Wahltag in Chile. 800.000 Menschen versammeln sich auf der Alameda, der Hauptstraße von Santiago, und singen "Venceremos!" - Wir werden siegen! Und sie siegten. Salvador Allende und seine Unidad Popular (UP, Volkseinheit) gewannen die Wahlen mit 36,3 Prozent vor dem christdemokratischen Kandidaten der Rechten, Ex-Präsident Jorge Alessandri (34,9 Prozent). Mit Unterstützung der linken Fraktion der Christdemokraten (der Führer des linken Flügels, Radomiro Tomic, hatte bei den Wahlen immerhin über 27 Prozent erreicht) gewinnt Allende die Abstimmung im Kongress und übernimmt die Regierung Chiles. Wie mehr als drei Jahrzehnte später der Kandidat der Linken in Brasilien, Luis Inacio Lula da Silva, hatte auch Allende vorher drei Mal vergeblich versucht - zum ersten Mal bereits 1952 -, auf dem Wahlweg die Regierungsgewalt zu erobern.

Um im Kongress die Mehrheit zu erlangen, hatte Allende der Opposition garantieren müssen, sich innerhalb der verfassungsmäßigen Bahnen zu bewegen und lediglich strukturelle Reformen auf Grundlage der herrschenden Gesetze durchzuführen.

Einen ersten Vorgeschmack auf den zu erwartenden Widerstand der Rechten bildete die Entführung des verfassungstreuen Oberkommandierenden des Heeres, René Schneider, im Oktober 1970. Als sich der General dem Entführungs-Versuch widersetzte, wurde er erschossen.

In den ersten anderthalb Jahren ihrer Amtszeit erließ die UP-Regierung eine Reihe weitreichender Maßnahmen zur politischen und ökonomischen Umgestaltung des Landes. Die in ausländischer Hand befindlichen Bergwerke wurden nationalisiert, die großen Latifundien enteignet, die Banken unter staatliche Kontrolle gestellt. Eine massive Einkommensumverteilung führte zu einem starken wirtschaftlichen Konjunkturaufschwung. Bei den Gemeindewahlen vom April 1971 gewann die Linke bereits über 50 Prozent der Stimmen.

Der Umschwung

Die wachsende Zustimmung für die Politik der Unidad Popular rief nun im In- und Ausland die Gegner des friedlichen Übergangs zum Sozialismus auf den Plan. Die Verstaatlichung der Kupferindustrie, die im chilenischen Parlament fast einstimmig beschlossen worden war, und die Beschränkungen der Interessen des US-amerikanischen Kapitals zogen die unerbittliche Feindschaft der Regierung der Vereinigten Staaten auf sich. Washington verhängte eine Handels- und Finanzblockade gegen Chile, das damit seinen wichtigsten Außenhandelspartner verlor.

Die zunehmenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten ließen auch die soziopolitischen Spannungen anwachsen. Und die Fortschritte in der strukturellen Umwandlung des Staates in Richtung Sozialismus riefen in der Mittelklasse, die noch 1970 bei den Wahlen zu einem wesentlichen Teil Allende unterstützt hatte, kollektive Ängste hervor. Als die Linke und die Arbeiterschaft begann, den Einzelhandel zu kontrollieren und den Nationalisierungsprozess auch auf die Industrie, den Handel und den Dienstleistungssektor auszudehnen, begannen die Mittelschichten, gegen die UP-Regierung Position zu beziehen. Ein bedeutender Faktor dabei war auch die - von den bürgerlichen Medien geschürte - Furcht, durch den Sozialismus ihre "Freiheit" zu verlieren, ihre Lebensweise ändern zu müssen. Die Christdemokratische Partei schwenkte auf eine radikale Oppositionshaltung um. Finanziell und auch immer mehr logistisch unterstützt wurde der regierungsfeindliche Block von den Vereinigten Staaten.

Die Streikaktionen der Mittelklasse häuften sich, wobei sich die Transportunternehmen zur Speerspitze einer immer militanteren Oppositionsbewegung entwickelten. Im Frühjahr 1972 beschloss die Regierung, den Lastwagen-Transport zu verstaatlichen. Die Antwort war ein umfassender anhaltender Streik der privaten Transportbetriebe, die durch die Geldzahlungen aus den USA dem wirtschaftlichen Druck der Regierung überstehen konnten. Gleichzeitig schaltete sich auch die CIA immer stärker in den innerchilenischen Konflikt ein. Gegen den damaligen Außenminister Henry Kissinger laufen heute wegen direkter Unterstützung der Putschvorbereitung und gewalttätiger Aktionen mehrere Strafverfahren.

Die Oktober-Krise

Im Oktober 1972 unternahm die Opposition eine erste große konzertierte Offensive. Die Ärzte verließen die Krankenhäuser, die Geschäfte schlossen, die Transportunternehmer blockierten die Straßen. Der politische Konflikt wandelte sich nun endgültig zu einem erbarmungslosen Klassenkonflikt. Die Offensive der Rechten führte zu einer breiten Mobilisierung der gesellschaftsverändernden Kräfte, in die sich nunmehr auch fast einstimmig die bäuerliche und die städtisch marginalisierte Bevölkerung eingliederte. Hunderttausende ArbeiterInnen besetzten Fabriken, nahmen die Produktion in die eigenen Hände und führten ein System direkter Güterverteilung ein.

In den Industrievierteln der Großstädte bildete die Arbeiterschaft eigene Gemeinderäte, Solidaritätsorganisationen, Frauenausschüsse und entwickelte Verteidigungsmaßnahmen. Dieser Prozess entfernte sich immer mehr von den traditionellen Linksparteien und der UP-Regierung. "Das Volk kämpft für seine Macht!", war die Devise für den Aufbau einer Volksmacht, die die chilenische Revolution sichern und weiterführen sollte.

Die linken Parteien - mit Ausnahme der MIR, der revolutionären Linken - spielten in diesem Prozess eine eher hemmende Rolle. Die Kommunistische Partei setzte weiterhin auf ein Bündnis mit der Rechten, die Regierung unter Präsident Allende wollte ein offenes und möglicherweise gewalttätiges Ausbrechen des Konflikts unbedingt vermeiden.

Trotz der sich rapide verschlechternden wirtschaftlichen Situation und den Versorgungskrisen gewann die Linke bei den Parlamentswahlen vom März 1973 43 % der Stimmen, immerhin um fast 7 % mehr als drei Jahre zuvor.

Das Ende

Doch trotz der auf Ausgleich bedachten Politik Allendes war die Eskalation des Konflikts nicht mehr aufzuhalten. Obwohl die Oktober-Offensive der Rechten durch die Massenmobilisierung der Linken fehlschlug, musste der Präsident zur Beruhigung der politischen Konfrontation einige Militärs ins Kabinett aufnehmen. Allende suchte eine Verständigung mit den Christdemokraten, die jedoch, aufgeschreckt durch die Radikalisierung großer Teile der Bevölkerung und die drohende Volksmacht, zu keiner Zusammenarbeit mehr bereit war.

Die Agitation der Opposition nahm immer schärfere Formen an: politischer Druck, um Ministerwechsel zu provozieren, wirtschaftliche Boykottmaßnahmen, die zu massiven Verteilungsschwierigkeiten und einer starken Inflation führten, und schließlich offen terroristische Aktionen. Von Mitte Juli bis Ende August kam es zu mehr als 1500 Überfällen auf Brücken, Stromleitungen, Wasserversorgungseinrichtungen, Eisenbahnlinien, Pipelines, Lagerhallen ... In den Streitkräften wuchs der Einfluss der putschbereiten Kräfte. Im August wurde der verfassungstreue Oberbefehlshaber des Heeres und Verteidigungsminister General Carlos Prats zum Rücktritt gezwungen; General Augusto Pinochet übernahm den Oberbefehl über das Heer.

Am 11. September wurde dem Experiment eines friedlichen Übergangs zum Sozialismus ein gewalttätiges Ende gesetzt. Die Streitkräfte stürmten "La Moneda", den Regierungssitz, General Pinochet übernahm an der Spitze einer Militärjunta die Macht; die dunkelste und blutigste Periode der chilenischen Geschichte sollte beginnen.

Vom belagerten und beschossenen Regierungspalast aus hielt der 65-jährige Präsident Allende seine letzte Rede an das chilenische Volk: "In eine Periode historischen Übergangs gestellt, werde ich die Treue des Volkes mit meinem Leben entgelten. ... Es lebe Chile! Es lebe das Volk! Es leben die Werktätigen! Dies sind meine letzten Worte. Ich habe die Gewissheit, dass mein Opfer nicht umsonst sein wird. Ich habe die Gewissheit, dass es zumindest eine moralische Lektion sein wird, die die Feigheit und den Verrat strafen wird."

Rettungsloses Experiment

Es ist nach dem tragischen 11. September 1973 viel spekuliert worden, ob der Militärputsch hätte verhindert werden können. Die unüberbrückbar erscheinende politische Polarisierung im Lande und die katastrophale Wirtschafts- und Versorgungslage, die, zusammen mit den terroristischen Aktionen der Rechten, das Land in ein regelrechtes Chaos stürzten, sowie die tatkräftige US-amerikanische Unterstützung der Opposition sprechen dagegen. Doch obwohl die putschbereiten Kräfte im chilenischen Militär, das sich durch viele Jahrzehnte hindurch als verfassungstreue Institution erwiesen hatte, im Laufe des Jahres 1973 immer stärker geworden waren, war der Erfolg eines Staatsstreiches keineswegs garantiert. Die Putschisten fürchteten, bei der beabsichtigten brutalen Repression auf Widerstand in den eigenen Reihen zu stoßen, und sie fürchteten, die Regierung werde letztendlich die organisierte Arbeiterschaft bewaffnen.

Doch selbst ein Scheitern des Putsches im September 1973 hätte noch nicht das Überleben des chilenischen Experimentes bedeutet. Durch die vielen innenpolitischen Probleme war die Regierung der Unidad Popular äußerst erschöpft, die linken Parteien waren sich unklar über den einzuschlagenden Weg, die Organisationen der Volksmacht sahen wohl in Allende ihren Führer, gerieten jedoch mit ihren Aktionen immer häufiger in Gegensatz zur Regierung und in Konflikt mit den Gesetzen. Und die Vereinigten Staaten hätten ihre massive Unterstützung der Opposition wohl nicht eingestellt, sondern wahrscheinlich eine bewaffnete Konterrevolution wie etwa im Nicaragua der 80er-Jahre aufgebaut.