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Vor 60 Jahren wurde der "Juden-Stempel" eingeführt

Von Howard Dubois/sda

Politik

Bern · 60 Jahre nach Einführung des "J"-Stempels in den Pässen deutscher Juden ist die Diskussion über die Mitverantwortung der Schweizer Behörden an dieser Diskriminierung und Schikane | neu entflammt. Im Zentrum der Debatte steht der damalige Fremdenpolizeichef Heinrich Rothmund.


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Nazi-Deutschland führte am 5. Oktober 1938 die Kennzeichnung der Reisepässe von deutschen Juden mit einem aufgestempelten "J" ein. Jahre später erregte der "Schweizerische Beobachter"

Aufsehen, als er den Chef der eidgenössischen Fremdenpolizei, Heinrich Rothmund, als "Erfinder" des J-Stempels bezeichnete. Dieser habe den deutschen Behörden die Kennzeichnung vorgeschlagen, um den

Zustrom jüdischer Flüchtlinge in die Schweiz leichter eindämmen zu können, enthüllte das Blatt am 31. März 1954 unter Berufung auf Dokumente, welche die Alliierten freigegeben hatten.

Der Bundesrat, die Regierung in Bern, beauftragte daraufhin den Rechtsprofessor Carl Ludwig, die schweizerische Flüchtlingspolitik eingehend zu untersuchen. In seinem 1957 erschienenen Bericht zeigte

Ludwig auf, daß sich Rothmund zwar für harte Maßnahmen gegen "Überfremdung" eingesetzt, aber große Vorbehalte gegen eine besondere Kennzeichnung jüdischer Pässe vorgebracht hatte. Er habe dem

deutschen Vorschlag nur widerwillig zugestimmt.

Gleichwohl wurde in späteren Berichten an der Hauptverantwortung der Schweiz und ihres Polizeichefs festgehalten. So heißt es etwa im 1997 erschienenen Eizenstat-Bericht: "Die Schweiz veranlaßte die

Nazis zum J-Stempel, der Zehntausende von Juden daran hinderte, in die Schweiz oder an andere potentielle Zufluchtsorte zu gelangen". Im Zuge der neuen Diskussion über die Rolle der Schweiz während

der Nazizeit wurde diese These hinterfragt. Die Idee des J-Stempels sei nicht von Rothmund, sondern von deutscher Seite gekommen, schrieb Alfred Cattani in der "Neuen Zürcher Zeitung" (NZZ)

unter Berufung auf neueste Forschungsergebnisse. Rothmund sei mitverantwortlich, aber nicht der alleinige Schuldige gewesen.

Schließlich korrigierte Anfang September der "Beobachter" seine Aussage von 1954. Die Schweiz sei nicht Erfinderin des Judenstempels gewesen, doch habe sie mit ihrer hartherzigen

Flüchtlingspolitik den Weg dazu geebnet. Der Verfasser des Berichts von 1954, Peter Rippman, bleibt indes bei seiner Beurteilung, die Kennzeichnung der "Judenpässe" gehe auf schweizerische Initiative

zurück.

Die Frage des Judenstempels wird von der Bergier-Kommission neu untersucht, wie deren Forschungsleiter Jacques Picard darlegte. Dabei sollen die widersprüchlichen Interessen und unterschiedlichen

Logiken der Akteure und Amtsstellen in der Schweiz und im Ausland aufgezeigt werden, die zur Einführung der Kennzeichnung führten.

Nachdem sich auf der internationalen Flüchtlingskonferenz von Evian im Juli 1938 die meisten Länder weigerten, weitere Flüchtlinge aufzunehmen, suchten die Schweizer Behörden im Gespräch mit

Deutschland nach Möglichkeiten der Emigrantenkontrolle. Rothmund war für die Wiedereinführung des Visumszwangs mit Deutschland, doch das Politische Departement (Außenamt) befürchtete negative

Auswirkungen auf Politik und Wirtschaft.

Rothmund schlug im August 1938 einen Paß-Sichtvermerk für alle Emigranten aus Deutschland vor · "Nichtarier" sowie "arische" Regimegegner. Als vom deutschen Auswärtigen Amt die Idee eines "J"-

Stempels in den Pässen deutscher wie auch schweizerischer Juden vorgebracht wurde, warnte Rothmund, die Schweiz riskiere, "die ganze zivilisierte Welt" gegen sich aufzubringen. Der Bundesrat wie auch

der Schweizer Gesandte in Berlin, Hans Frölicher, favorisierten dagegen die Stempel-Idee. Bei den Verhandlungen in Berlin Ende September beugte sich schließlich auch Rothmund dem Wunsch seiner

vorgesetzten Behörde.

So vereinbarten die Delegationen am 29. September 1938, daß die deutschen Behörden die Pässe von "reichsangehörigen" Juden und Jüdinnen mit einem besonderen Merkmal versehen. Die Schweizer Regierung

werde "nichtarischen" Deutschen die Einreise nur gestatten, wenn deren Paß die Aufenthalts- oder Durchreisebewilligung eines schweizerischen Konsulats enthalte. Am 4. Oktober stimmte der Bundesrat in

Bern der Vereinbarung zu. Tags darauf ordnete Deutschland die Paßkennzeichnung an.