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Vor dem Endkampf

Von Gerhard Lechner

Politik

Eine Schlacht um Donezk könnte sehr blutig werden.


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Slawjansk/Kiew/Moskau. Als der Morgen kam, waren sie plötzlich weg. Über Nacht hatten die prorussischen Rebellen der "Volksrepublik Donezk" ihre Stellungen in den monatelang umkämpften Städten Slawjansk und Kramatorsk im Osten der Ukraine aufgegeben und sich in Richtung ihrer Bastionen, der Industriestädte Donezk und Luhansk, zurückgezogen. Stattdessen übernahmen ukrainische Soldaten das Kommando, verteilten Lebensmittel an die Bevölkerung und nahmen mutmaßliche Separatisten fest. Für die Armee, die im Kampf gegen die Rebellen lange Zeit erfolglos blieb, deren Soldaten im April noch in Scharen zu den Rebellen übergelaufen waren und deren Führung eben erst wegen chronischer Erfolglosigkeit ausgewechselt wurde, war die Stunde des Triumphs gekommen: Soldaten der Kiewer Armee räumten die Waffenlager der Rebellen aus. Der eben erst angelobte Verteidigungsminister Waleri Heletej gab strahlend und entspannt Interviews. Er erklärte, warum seine Truppe nicht mehr dieselbe sei wie im April: "Die Armee weiß heute, wie man kämpfen muss." Soldaten hissten auf den Verwaltungsgebäuden in Slawjansk die blau-gelbe Staatsflagge. "Ein Moment für die Ewigkeit, wie die rote Fahne 1945 auf dem Reichstag", bemühten Kiewer Medien einen Vergleich aus glorreichen Tagen der Sowjet-Historie.

Lange war die ukrainische Führung in der Defensive, wirkte planlos. Nunmehr befindet man sich im Siegesrausch. Verhandlungen mit den Separatisten sind gegenwärtig in Kiew wenig populär. "Die Säuberung Slawjansks von den Unmenschen hat überragende symbolische Bedeutung", sagte Staatschef Petro Poroschenko in einer Rede an die Nation. Ein "Wendepunkt" sei eingetreten. Von dem Bemühen, auf dem Verhandlungstisch einen Ausweg aus der Krise zu finden, ist nicht viel geblieben. Der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier forderte die Führung in Kiew deshalb auch erneut mit Nachdruck dazu auf, trotz der jüngsten Erfolge auf dem Schlachtfeld den Dialog zu suchen. Eine rein militärische Lösung könne es "nicht geben, zumal sich die Mehrzahl der Separatisten jetzt in Donezk regelrecht verschanzt hat".

Festung Donezk

Eben das könnte in den nächsten Wochen zum großen Problem werden. Die in die Defensive gedrängten, rund 20.000 Rebellen halten mit Donezk und Luhansk noch die wichtigsten Industriemetropolen der Ostukraine. Nun sollen sie zu "Festungen" ausgebaut werden. Straßenkämpfe mit Flüchtlingsströmen hätten in der Millionenmetropole Donezk ungleich schlimmere Auswirkungen als in den Verkehrsknotenpunkten Slawjansk und Kramatorsk. Bereits dort hatte die Zivilbevölkerung unter den Kämpfen schwer gelitten: Die Rebellen hatten sich in den Wohnhäusern verschanzt, diese wurden dann zu Zielen von Granaten der ukrainischen Armee. In Donezk würde sich dieses Leid in weit größerem Maßstab abspielen - und da die Separatisten keine Rückzugsmöglichkeit mehr hätten, wäre ein Kampf bis zum bitteren Ende zumindest denkbar. Militärexperten sprechen bereits von der Möglichkeit, dass die Rebellen der ukrainischen Führung in Donezk ihr "Stalingrad" bereiten wollen. Auch von der Neuauflage eines Partisanenkrieges ist die Rede.

Einstweilen ist es noch nicht so weit. Die Regierungstruppen sind freilich nach der Eroberung Slawjansks und Kramatorsks auf Donezk und Luhansk vorgerückt und belagern die beiden Großstädte. Die Zufahrten zur Millionenmetropole Donezk sind abgeriegelt und streng kontrolliert, in den Vororten wird bereits gekämpft. "Donezk wird schon bald befreit sein", sagte ein Sprecher des Innenministeriums. "Unsere Truppen stehen am Stadtrand. Die Terroristen haben keine Perspektive mehr."

Putin unter Druck

Doch auch wenn die Separatisten tatsächlich in Bälde die Waffen strecken - der Weg aus der Krise ist für die Ukraine noch ein weiter. Denn selbst wenn die Erzählung Kiews stimmt, dass es ausschließlich "prorussische Provokateure" gewesen sind, die die Proteste in der Ostukraine hervorgerufen hätten, so ist doch offensichtlich, dass deren Positionen von einem breiten Teil der lokalen Bevölkerung geteilt wurden.

Der aggressive ukrainische Nationalismus der Freiwilligenbataillone, der sich auch nationalsozialistischer Symbolik bedient, wird im Donbass, der historisch eng mit Russland verwoben ist, nicht geteilt. Auch dass Kiews Verteidigungsminister Heletej von einer "Siegesparade in Sewastopol" auf der Krim träumt, wird im Kreml als Provokation aufgefasst werden. Und Moskau steht ohnehin unter Druck: "Sie erfüllten uns mit Hoffnung und gaben uns dann auf", sagte Rebellenkommandant Igor Strelkow in Richtung des russischen Präsidenten. Wladimir Putins Schutzzusagen seinen nur "schöne Worte" gewesen. Strelkows Wunsch: eine russische Invasion.