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Erstmals seit dem Fall der Berliner Mauer könnte in Europa mit der griechischen Syriza eine Partei an die Regierung kommen, die sich selbst als "radikale Linke" bezeichnet.
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Athen. "Omonia" heißt auf Griechisch "Eintracht". Was die beiden charismatischen Protagonisten an diesem lauen Donnerstagabend symbolkräftig auf dem "Omonia"-Platz mitten in Athen zur Schau trugen, das zeugte jedenfalls von Einigkeit, Gleichgesinntheit, Harmonie. Alexis Tsipras, Chef vom griechischen "Bündnis der Radikalen Linken" ("Syriza"), und Pablo Iglesias, Anführer der aufstrebenden spanischen Protestpartei "Podemos" ("Wir können") lagen sich auf dem errichteten Podest in den Armen - und genossen den schönen Moment mit einem breitem Lachen. Zehntausende Syriza-Anhänger schwenkten Parteifahnen und skandierten voller Inbrunst. Griechisch-spanische Brüderlichkeit pur.
Zuvor hatte Syriza-Chef Tsipras im Endspurt vor den wegweisenden Parlamentsneuwahlen in Griechenland am Sonntag auf der Abschlusskundgebung in Athen in einer etwa einstündigen Rede das wiederholt, was er schon seit Wochen auf seiner Wahlkampftour im Eiltempo durchs ganze Land als Grundpfeiler des Programms einer Syriza-Regierung präsentiert: ein Schuldenschnitt für Griechenlands nach seiner Ansicht "nicht tragfähigen" Staatsschuld, das sofortige Ende des Sparkurses, die Bekämpfung der humanitären Krise.
"Wir haben eine Vision"
"Wir suchen eine erste Chance für Syriza, vielleicht ist dies die letzte Chance für Griechenland", sagte der allenthalben als unangefochtener Wahlfavorit gehandelte Tsipras an das Publikum gerichtet. "Und wir ersuchen diese saubere Chance, um mit voller Kraft gegen das abgewirtschaftete System und die Urheber der Sparprogramme zu kämpfen. Wir haben eine Vision, wir haben einen Plan", rief er den Syriza-Anhängern auf dem überfüllten "Omonia"-Platz zu. Die Menschenmenge jubelte.
Ob die seit den Doppelwahlen im Frühjahr 2012 führende Oppositionspartei Syriza, bis zum Ausbruch der desaströsen Griechenland-Krise noch als eine Kleinstpartei versprengter Salon-Bolschewisten verhöhnt, ab Montag tatsächlich schon bald die Alleinregierung in Athen stellt, bleibt zwar abzuwarten.
Doch die Athener Demoskopen stellen in diesen letzten Tagen vor dem Urnengang, die für das Wahlverhalten der Griechen traditionell ausschlaggebend sind, unisono fest: Syrizas ohnehin seit geraumer Zeit konstanter Vorsprung auf die konservative Regierungspartei Nea Dimokratia (ND) unter Premierminister Antonis Samaras wird nun immer größer. Im Fachjargon heißt das: die Schere öffnet sich.
Erste Gesetzesentwürfe
Der amtierende Regierungschef Antonis Samaras versucht indes im Endspurt noch einmal, insbesondere die unentschlossenen Wähler zu mobilisieren. Sein Tenor: "Entweder wir setzen unsere Regierungsarbeit fort oder Griechenland droht mit einer Syriza-Regierung ein Abenteuer." "Die Griechen wollen Europa, sie wollen Ernsthaftigkeit", sprühte Samaras am Freitagmorgen in einem Interview mit dem privaten TV-Sender "Antenna" vor Zuversicht.
Das sieht Podemos-Führer Pablo Iglesias ganz anders. In einwandfreiem Griechisch sprach er auf besagter Kundgebung auf dem "Omonia"-Platz in mediterraner Überschwänglichkeit zu den Syriza-Anhängern. "Es weht ein Wind des Wechsels in Europa. Die Wende in Griechenland trägt den Namen Syriza. Die Wende in Spanien heißt Podemos. Die Stunde der Hoffnung in Europa hat geschlagen. Syriza - Podemos - Venceremos." Sogar die regierungsnahe Athener Presse hat sich mit einem Syriza-Wahltriumph bereits abgefunden. Die auflagenstärkste Athener Gazette "Ta Nea" präsentierte in ihrer Freitagsausgabe auf der Titelseite die ersten beiden Gesetzentwürfe, die die neue Syriza-Regierung im Athener Parlament einreichen werde.
Sie betreffen die Bekämpfung der humanitären Krise sowie Zahlungserleichterungen unter anderem für Steuerpflichtige, die beim hellenischen Fiskus in der Kreide stehen. Dies ist ein Massenproblem: Denn mehr als drei der elf Millionen Griechen haben mittlerweile Steuerschulden. Man braucht kein Hellseher zu sein, wie das Gros dieser Betroffenen wählen wird.