Kabul - Der Paschtune Hadschi Abdul Kadir hat sich die Provinz Nangarhar unter den Nagel gerissen, Vertraute des berüchtigten Mudschaheddin Gulbuddin Hekmatjar kontrollieren die Provinzen Kunar und Logar im Osten Afghanistans. Im Norden machen sich der usbekische Kommandeur Abdul Raschid Dostum und seine Leute breit. In der Hauptstadt Kabul wachen die Paschtunen aufmerksam über das Treiben der in der Nordallianz verbündeten Tadschiken und Hasara.
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Kaum sind die Taliban weg, teilen ihre Gegner das Land unter sich auf. Sie nutzen die Gunst der Stunde, um alte Rechnungen zu begleichen und ihre ganz persönlichen Ziele zu verfolgen. Und sie schaffen Tatsachen, die beim späteren Prozess des politischen Wiederaufbaus nur schwer zu vernachlässigen sein werden. Vom Frieden ist Afghanistan immer noch so weit entfernt wie eh und je.
Mit Jubel wurde die Nordallianz bei ihrem Einmarsch in Kabul begrüßt. Die Tadschiken und Hasara in der Hauptstadt leben seit dem Einzug der Truppen sicherer. "Bevor die Nordallianz hier ankam, wurden wir oft bestohlen, aber seit die Soldaten hier sind, kommt das kaum noch vor", berichtet der Besitzer eines Fotostudios, Mir Wahis. "Die Soldaten der Nordallianz haben sich verändert. Sie sind disziplinierter geworden", findet der Tadschike. In den paschtunischen Vierteln bietet sich allerdings ein anderes Bild: "Die Soldaten haben fast zehn Autos und Lastwagen geklaut", klagt Mohammed Murid, der eigentlich als Fahrer arbeitet. Jetzt steht er ohne Fahrzeug und damit ohne Arbeit da. Mohammed Jussuf erging es kaum besser: "Mich haben sie geschlagen. Sie haben die Scheiben meines Autos eingeworfen, mir das Autoradio und mein Geld geklaut".
Weite Teile des übrigen Landes bilden einen Flickenteppich unterschiedlicher Machtbereiche. Überall haben nach dem Rückzug der Taliban einflussreiche und weniger einflussreiche Kriegsherren das Machtvakuum ausgenutzt und die Kontrolle übernommen. Sie pochen auf ihre Unabhängigkeit, viele sind der Nordallianz feindlich gesonnen, sagt der ehemalige Chef des pakistanischen Geheimdienstes, Hamid Gul. Sollten deren Truppen versuchen, auf die Gebiete vorzudringen, werde es ein Blutvergießen geben, warnt er.
"Afghanistan ist in die Zeit der Lehensherrschaft zurückgefallen", lautet Guls Fazit. Das Land stünde wieder da wie vor Ausbruch des Bürgerkriegs 1992 - "vielleicht ist die Lage noch schlimmer". Beobachter fürchten, dass die Kämpfe zwischen den verschiedenen Mudschaheddin-Gruppen nach dem Sturz des gemeinsamen Feindes wieder beginnen. Ein Sprecher von Hekmatjar kündigte bereits an, die Truppen seines Kommandeurs würden weder die Nordallianz noch sonst eine von den USA unterstützte Regierung akzeptieren. "Wir haben überall im Land unsere Kämpfer", warnt er.