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Vorarlberger Modellversagen

Von Harald Oberhofer

Gastkommentare
Harald Oberhofer ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Wirtschaftsuniversität (WU) Wien und forscht am Wifo.
© Roman Reiter / WU

"I wüs gar ned wissen. Ned so genau."


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"I wüs gar ned wissen. Ned so genau." Diese Liedzeile von Dr. Kurt Ostbahn mag in anderen Lebenslagen hilfreich sein, zur Pandemiebekämpfung taugen sie nicht. In Österreich stehen in zwölf Tagen weitreichende Öffnungsschritte bevor. Vorarlberg hat mit 15. März deutlich früher viele Beschränkungen gelockert. So wurde etwa die Gastronomie unter Auflagen wieder geöffnet. Die Öffnungsschritte sollten - so die Ankündigungen hochrangiger Politiker - nicht nur den Vorarlbergern zugutekommen. Als Modellregion wollte man zeigen, dass Öffnungsschritte nicht zwangsläufig zu einer Zunahme der Infektionen führen müssen. Dazu wurde eine wissenschaftliche Begleitung der Öffnungsmaßnahmen angekündigt.

Knapp acht Wochen später wurden erste Ergebnisse der Begleitforschung präsentiert. Betrug die 7-Tage-Inzidenz am Beginn der Öffnungen weniger als 70, hat sie sich im Laufe der vergangenen zwei Monaten zeitweise vervierfacht. Die Zahl der Patienten auf Intensivstationen stieg von drei auf zehn. Aus diesem Bild ergeben sich zwei Fragen, die für die Abschätzung der möglichen Lockerungsfolgen am 19. Mai relevant sind: Warum sind die Infektionszahlen so deutlich angestiegen, und warum haben diese (noch) zu keiner Überlastung der Intensivstationen geführt? Letztere Frage scheint im Moment noch weitgehend ungeklärt.

Die erste Frage wird durch die Cluster-Analysen der Österreichischen Agentur für Ernährungssicherheit (Ages) wie folgt beantwortet: Die Gastronomieöffnung hat keine wesentliche Rolle gespielt. Die Öffnungsschritte hätten aber vermeintlich zu einem Sinken der "Hemmschwelle" geführt, die die steigenden Fallzahlen erklären würden, heißt es. Anders ausgedrückt: Je größer die Öffnungsschritte ausfallen, desto stärker wird die Inzidenz steigen. Wie man dies verhindert könnte, verraten uns die Ergebnisse aus Vorarlberg nicht. Trotz anderslautender Versprechen.

Wissenschaftliches Faktum ist, dass die Cluster-Analysen gravierende Schwachstellen aufweisen. So können etwa ein Drittel aller Infektionen keinem Übertragungsort zugeordnet werden. Die Ansteckung könnte in der Gastronomie erfolgt sein, muss aber nicht. Wurde das Virus in den Wohnungsverbund getragen, so werden alle Folgeinfektionen dem Übertragungsort "Haushalt" zugeordnet. Die eigenen vier Wände werden somit automatisch zum "Hotspot", während die Gastronomie ein "Safe Space" sein soll. Österreichweit wurden in den vergangenen Wochen rund 70 Prozent aller Infektionen den Haushalten zugeordnet und nur 0,1 Prozent der Hotellerie und Gastronomie. Als Grundlage für evidenzbasierte Politik taugen diese Zahlen jedenfalls nicht.

Nun ist die Covid-19-Pandemie in ihrem Verlauf zugegebenermaßen komplex. Die Ergebnisse aus Vorarlberg können jedoch zu fragwürdigen politischen Schlussfolgerungen führen. Die Forderung des neuen Gesundheitsministers Wolfgang Mückstein nach Anerkennung der deutlich weniger verlässlichen "Wohnzimmertests" als Eintrittstests ist ein Beleg hierfür. Das Fehlen ausreichender und methodisch abgesicherter empirischer Evidenz für ein Problem ist nämlich keine Evidenz für das Fehlen des Problems.

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