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Vorausschauend handeln, statt dem Chaos hinterherhechten

Von Matthias Strolz

Gastkommentare
Matthias Strolz ist Klubobmann der Neos.

Das Abkommen der EU mit der Türkei wird die Flüchtlingskrise nicht lösen.


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Es wäre äußerst kurzsichtig und naiv, zu glauben, dass das EU-Türkei-Abkommen die Lösung für die Flüchtlingskrise bringen wird. Erstens ist der wackelige Deal auf 70.000 Flüchtlinge begrenzt (und es sind noch viele Fragen offen); zweitens werden sich rasch neue Fluchtrouten etablieren. Allein in Jordanien und im Libanon sitzen mehr als zwei Millionen syrische Flüchtlinge. Und wenn die Türkei weiterhin Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Pressefreiheit mit Füßen tritt, werden wir schon im Sommer die ersten Flüchtlingsströme aus den Kurdengebieten der Türkei erleben.

Ja, die aktuell raue See und der fragwürdige EU-Türkei-Deal bescheren Europa eine kurze Verschnaufpause. Aber ich sehe keine Anzeichen, dass diese vorausschauend genutzt wird. Leider halten die Fluchtgründe in Afghanistan, in Syrien, im Irak und in vielen anderen Ländern weiter an. Solange wir hier in keine Befriedung kommen und solange es keine wirtschaftlichen Perspektiven für die Bevölkerung vor Ort gibt, wird die Fluchtbewegung anhalten. Sie werden kommen - tot oder lebendig. Ohne gemeinsame europäische Lösungen in der Entwicklungs-, Nachbarschafts-, Außen-, Sicherheits- und Asylpolitik werden wir weiterhin dem Chaos hinterherhechten.

Wenn Lösungen nicht mit allen 28 EU-Staaten möglich sind, muss der Kreis enger gezogen werden. Kerneuropa kann kleiner sein, dafür muss es funktionieren. Wir brauchen gemeinsam finanzierte und organisierte Aufnahmezentren an der Außengrenze sowie gemeinsame Asylverfahren. Dabei müssen die Antragsteller auf ein Mitgliedsland zugeteilt werden und haben auch dort zu bleiben (Wohnsitzbindung). Jene, die keinen Schutz zugesprochen bekommen, müssen mit engagierten Rückführungsabkommen abgewiesen werden.

Im Bereich der Arbeitsmigration braucht es ebenso klare Regeln (eine Blue Card analog zur amerikanischen Green Card) wie die Botschaft: Nicht alle, die hier arbeiten wollen, werden wir aufnehmen können und wollen. Auch in Österreich selbst gibt es viel zu tun. Die Herausforderungen in der Integration werden immens sein. Die Regierung hat keinen Plan. Seit einem Jahr fordern wir vom Integrationsminister einen Nationalen Aktionsplan für Asyl und Integration. Doch außer Überschriften kommt nicht viel. Währenddessen wandern die anerkannten Flüchtlinge zunehmend nach Wien. Die Bundeshauptstadt wird diesem Ansturm nicht standhalten können. Einen kleinen Vorgeschmack liefert die Bildungsdebatte der vergangenen Woche - der Befund, dass in Brennpunktschulen bereits über 90 Prozent der Schülerinnen und Schüler Probleme mit der Sprache haben. Da sich diese Problematiken weiter zuspitzen werden, ist eine Wohnsitzbindung für Flüchtlinge auch innerhalb Österreichs sinnvoll. Sonst werden bis zu 80 Prozent der Flüchtlinge früher oder später in Wien sein. Das würde nicht gut ausgehen. Daher gilt es vorausschauend zu handeln. Bisher widmet sich die Regierung den Problemen immer erst, wenn sie bereits überkochen. Das ist nicht mein Politikverständnis.