)
Russlands Krieg in der Ukraine sorgte für ein Umdenken in Taiwan. Auf der Insel bereitet man sich aufs Schlimmste vor.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 2 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Wenn Wen Liu von ihrer neuen Freizeitbeschäftigung erzählt, wird ihre Stimme lauter, ihr Sprechtempo höher. "Ich habe gelernt, wie man am klügsten klettert und wie die Logistik kritischer Güter funktioniert." Wen Liu, im Hauptberuf Professorin für Ethnologie an der Academia Sinica in Taipeh, lernt gerade eine andere Welt kennen. "Ich habe auch an einem Militärkurs teilgenommen", sagt sie. Und sie habe viele Personen in ihrem Bekanntenkreis, die schon mit einer Softgun trainiert haben.
Am Telefon erzählt Wen Liu, die sich lieber nicht persönlich treffen will, wie sensibilisiert ihr Heimatland seit einigen Monaten ist. "Bis vor kurzem wollte niemand über Krieg sprechen." Jetzt aber sei das Thema an der Tagesordnung. Mehrere Nichtregierungsorganisationen haben begonnen, Kurse zu Selbstverteidigung anzubieten. "Das Teilnehmerfeld ist erstaunlich divers", sagt Wen Liu. "Da sind längst nicht nur Militär-Geeks. Auch junge Mütter. Und viele Personen, die gar nicht politisch denken." Menschen eben, die sich schützen wollten.
In Taiwan, einer 24-Millionen-Insel, gilt die Gefahr eines Krieges dieser Tage als absolut real. Mehrmals hat Xi Jinping, der von Peking aus Festlandchina regiert, die "Vereinigung" mit Taiwan angekündigt - notfalls unter Zwang. Regelmäßig setzt China Nadelstiche. Vergangene Woche drangen 39 chinesische Flugzeuge in die Luftverteidigungszone Taiwans ein. Was für viele bisher wie das laute Bellen eines vorlauten Hundes klang, fühlt sich seit einigen Monaten wesentlich bedrohlicher an. "Die Invasion Russlands in der Ukraine hat vielen Menschen die Augen geöffnet", sagt Wen Liu.
Hilfe von den USA und Japan
Mehr und mehr Menschen bereiten sich auf den Ernstfall vor. Man sieht es nicht nur an neuen Verteidigungskursen, die sich großer Nachfrage erfreuen. Auch die politische Debatte ist vom Kriegsszenario geprägt. Parlamentarier fordern längere Haftstrafen für Personen, die mit Akteuren aus Festlandchina auf eine Weise kooperieren, die die Sicherheit Taiwans gefährdet. Zudem könnte der Wehrdienst auf ein Jahr erhöht werden. Und häufig ist zu hören, wie Personen mit anderer Meinung entweder Verharmlosung oder Kriegstreiberei vorgeworfen wird.
Auf den ersten Blick wirken die Chancen für Taiwan winzig: Festlandchina, das das demokratisch regierte Taiwan als Teil seines eigenen Territoriums betrachtet, ist flächen- und bevölkerungsmäßig unendlich größer. Dementsprechend hat Peking ein viel stärkeres Militär, was auch die jüngsten Aufrüstungsversuche der taiwanischen Regierung kaum wettmachen. Andererseits: Aus den Vereinigten Staaten und Japan wurde zu verstehen gegeben, dass man im Fall einer Invasion durch Peking auf der Seite Taiwans stünde. Und der Krieg in der Ukraine hat gezeigt, was militärische Unterstützung ausmachen kann.

Der Taiwan-Konflikt hat seinen Ursprung im Chinesischen Bürgerkrieg, der 1949 mit dem Sieg der Kommunisten endete. Deren Gegner, die Unterstützer der Nationalistischen Partei (KMT) und ihres Anführers Chiang Kai-shek, waren unterdessen auf die Insel Taiwan geflohen, planten von hier aus die Rückeroberung des Festlandes. Je mehr Zeit verging, desto heimischer wurden die Nationalisten in Taiwan. Doch als in Festlandchina das große Wirtschaftswunder begonnen hatte, wurden allmählich auch die Ansprüche auf die Kontrolle über Taiwan lauter.
Taiwan, wo nach dem Tod von Chiang ab den 1980er Jahre der Übergang von einer Militärdiktatur zur Demokratie gelang, ist heute zutiefst gespalten. Zurück in die Diktatur will offiziell niemand, auch eine Rückeroberung Festlandchinas wird nicht mehr gefordert. Aber die harte Linie, die Präsidentin Tsai Ing-wen und ihre Demokratische Fortschrittspartei (DPP) gegenüber Peking fahren, gefällt nicht jedem.
"Kämpfen wie Amateure"
"Die DPP versteht nicht, wie man eine gute Verbindung zu Peking unterhält", sagt Chieh-cheng Huang. In einem Besprechungszimmer der National Policy Foundation, einem Thinktank der heute oppositionellen KMT, lässt er kein gutes Haar an Tsai. "Ihre Partei wirbt damit, China zu provozieren. Das ist sehr unklug." Tsai habe einen klugen Wahlkampf gemacht, betreibe aber dumme Politik. Zugleich müsse sie sich zu den NGOs positionieren, die nun die Bevölkerung trainieren und damit eigentlich Staatsaufgaben übernähmen. "Aber von der Präsidentin ist dazu nichts zu hören."
Auch die neuen Selbstverteidigungskurse, die von wohlhabenden Patrioten finanziert, aber ohne intensiven Kontakt zum Verteidigungsministerium unterhalten werden, hält Chieh-cheng Huang für naiv. Von einer Assistentin lässt er sich eine Camouflage-Jacke ins Zimmer bringen. "Das hier ist meine Jacke. Aber bin ich ein Krieger, weil sie Tarnmuster hat?" Gerade jetzt müsse man deeskalieren, so Huang: "Wir haben seit 64 Jahren keinen bewaffneten Konflikt gehabt, China seit 1979 nicht. Wir beide würden wie Amateure kämpfen. Was soll das?"
Kaum jemand würde Huang widersprechen. Dabei zeigte eine Umfrage des taiwanischen Magazins "Global Views Monthly", dass fast zwei Drittel der taiwanischen Bevölkerung einen Krieg befürchten. Zudem sorgen sich mehr als 55 Prozent der Unternehmen, durch die Spannungen auf dem wichtigen Markt in Festlandchina diskriminiert zu werden. Und Mitte des Jahres ergab eine Umfrage des Instituts für Nationale Verteidigung und Sicherheitsstudien, dass fast drei Viertel der Menschen für Taiwan in den Krieg ziehen würden. Gut die Hälfte wäre im Kriegsfall auch optimistisch.
Dazu gehört Wen Liu. "Ich glaube, Taiwan hat eine gute Chance, sich selbst zu verteidigen", sagt sie mit Entschlossenheit in der Stimme. "Grundsätzlich ist es einmal schwierig, eine Insel zu erobern." Anders als bei Russlands Invasion in der Ukraine ließe sich Taiwan nicht mit Panzern einnehmen. Die Rolle von Streitkräften in der Luft und auf dem Wasser wäre größer. Und Liu, die sich seit einiger Zeit vermehrt mit Verteidigungsexperten austauscht, glaubt, dass Taiwan auch dank möglicher Hilfe anderer Staaten gut aufgestellt wäre.
"Wir sind so zerstritten"
Mehr Sorgen als das Militärische macht ihr die politische Situation. "Wir sind so zerstritten. Wie stark wir im Kriegsfall wären, hängt auch davon ab, wer dann gerade regiert." Wen Liu, die der derzeit regierenden DPP nahesteht, wäre weniger optimistisch, falls die KMT an der Macht wäre. "Der politische Wille, wirklich zu kämpfen, wäre dann geringer, fürchte ich." Seitens der oppositionellen KMT beteuert man eher, ein Krieg würde dann gar nicht erst beginnen.
In einer Sache scheinen sich beide Lager einig zu sein: Sofern Peking wirklich eine Invasion startet, käme es auf den Zusammenhalt aller Menschen in Taiwan an. Und dann wäre jede Vorbereitung der Bevölkerung besser als keine.