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Nach der Atomkatastrophe von Fukushima musste die japanische Bevölkerung mit Energieengpässen leben. Es entstand eine Bewegung, deren Ideen auch heute rund um Krieg und hohe Gaspreise helfen: die Energiesparer.
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Es gab eine Zeit, da kümmerte man sich in Japan wenig darum, ob man das Licht angelassen hatte, die Klimaanlage einfach weiterlief oder der Fernseher durchgehend eingeschaltet war. Strom kam aus der Steckdose, und davon gab es überall welche. Doch an den Tagen nach dem 11. März 2011 änderte sich diese Gewohnheit schlagartig. Im Nordosten des Landes hatte sich nach einem Erdbeben der Stärke 9 eine rund 20 Meter hohe Tsunamiwelle an der Küste aufgetürmt. Neben ganzen Siedlungen, die verschluckt wurden, havarierte auch das Atomkraftwerk Fukushima Daiichi.
Es war die größte Katastrophe in der jüngeren Geschichte Japans. Rund 20.000 Menschen starben, Hunderttausende verloren ihr Zuhause - unter anderem deshalb, weil die Regierung Evakuierungen im 30-Kilometerradius und teilweise noch weiter anordnete. Aber damit nicht genug: Durch die Kernschmelzen in drei der sechs Reaktoren des Atomkraftwerks in Fukushima kam es auch zu Energieengpässen. Umso mehr deshalb, weil die Regierung bald sämtliche 54 Atommeiler im Land, die bis dahin rund ein Drittel der Energieversorgung ausgemacht hatten, aus Vorsicht abschaltete.
Es begann ein Umdenken. Maßgeblich angetrieben von NGOs, aber gestützt auch von der Regierung, gab es einen Ruck, der schnell den Namen "setsuden" erhielt. Die Vertreter der dezentralen setsuden-Bewegung, deren Begriff sich ins Deutsche mit Energiesparen übersetzen lässt, forderten von der gesamten Gesellschaft einen radikalen Lebenswandel. Erstmals seit der Ölkrise 1974 verlangte sie von den Menschen, dass nirgends mehr auch nur eine Kilowattstunde Energie verschwendet werden solle.
Tokio änderte sein Gesicht. Die in der Innenstadt sonst von Neonlichtern und Leuchtreklamen geprägte Metropole lang ohne Blinken und Flimmern im Halbdunkel. Diverse Unternehmen reduzierten freiwillig ihre Bürobeleuchtungen, beschränkten ihre Öffnungszeiten, so wie dies zumindest anfangs auch die Betreibergesellschaften von U-Bahnen und Bussen taten. Rolltreppen und Aufzüge wurden abgeschaltet, für Klimaanlagen galten fortan höhere Toleranzregeln, was warme und kühle Tage anging - um sie nicht so oft einschalten zu müssen.
In kurzen Hemden, ohne Sakko
An heißen Tagen empfahlen Arbeitgeber ihren Angestellten auch ausdrücklich, in kurzen Hemden zu kommen und das Sakko abzulegen. Und in Tokios Stadtzentrum zeigten Videowände statt bunter Videos fortan Updates der Regierung an, die darüber informierten, wie erfolgreich die Einsparbemühungen waren. Immerhin: Im Vergleich zu 2010, dem Jahr vor der Atomkatastrophe, verbrauchte Japan kollektiv im Jahr 2011 sechs Prozent weniger elektrische Energie. In einer Zeit, in der der Konsum bis auf Weiteres dauernd anwuchs, war dies durchaus beachtlich.
Nicht alles davon war freiwillig. Im März 2011 hatte der Energiekonzern Tepco, der durch die Atomkatastrophe in Fukushima in Zahlungsschwierigkeiten geriet und bald praktisch verstaatlicht wurde, sogar "geplante Stromausfälle" beschlossen. Tokio wurde in verschiedene Zonen eingeteilt, denen jeweils phasenweise der Strom abgestellt wurde. Nach Kritik inmitten mangelnder Kommunikation nahm Tepco dies aber nach eineinhalb Wochen wieder zurück.
Wichtiger und gesellschaftliche akzeptabler schienen die gemeinsamen Bemühungen, sich in Sparsamkeit zu üben. "Die getroffenen Maßnahmen erwiesen sich als sehr erfolgreich und trugen einen nicht geringen Anteil dazu bei, dass Japan auch in den Folgejahren weitestgehend ohne Atomkraft auskam", schreibt Robert Lindner, Professor an der Universität Kyushu und Experte für Energiepolitik, in einem Aufsatz über die Bewegung.
Der im Land bekannte Historiker und Sachbuchautor Kazutoshi Hanto erkannte in den kollektiven Anstrengungen auch typisch japanische Eigenschaften. In einem Interview mit einem japanischen Fernsehsender sagte er: "Nationale Einheit in Form von setsuden spiegelt die frühen Nachkriegsjahre wider, als die Menschen in Japan sehr hart arbeiteten, um das Land wiederaufzubauen." Dabei habe ähnlich wie damals, als Japan durch zahlreiche Luftangriffe sowie zwei Atombomben nahezu komplett zerstört war, auch im Zuge der Reaktorkatastrophe die Not zu neuen Ideen geführt.
Geholfen hat das Ganze aber nur, weil sich ein Großteil der Gesellschaft an den kollektiven Bemühungen beteiligte. Als "douchou atsuryoku" auf Deutsch: Druck zur Konformität oder auch Gruppenzwang, bezeichnet man dieses Phänomen, das zumindest in Katastrophensituationen als Stärke der japanischen Kultur gilt. Auch im Zuge der Pandemie hat sie dabei geholfen, die Infektionszahlen noch relativ geringzuhalten. Maskengegner gibt es hier praktisch keine. Nach einem verspäteten Start überholte Japan andere Länder auch rasch beim Impfen.
Stromverbrauch reduziert
Dieser Tage erinnert man sich in Japan an die Wochen und Monate nach der Atomkatastrophe von 2011. Weltweit können die Anstrengungen auch als Vorbild für andere Länder gelten, die heute inmitten des Ukraine-Kriegs vor einer ähnlich unsicheren Situation stehen, was die Energieversorgung angeht. Dabei betrifft dies auch Japan selbst. Zwar hat es die Gesellschaft und die Volkswirtschaft des ostasiatischen Landes geschafft, über das vergangene Jahrzehnt den jährlichen Stromverbrauch um rund ein Zehntel zu reduzieren.
Um den weiterhin bestehenden Bedarf zu decken, hat die Regierung allerdings auch verstärkt auf andere Energiequellen gesetzt, die inmitten des Ukraine-Krieges wieder teurer geworden sind. Importe von Gas, Öl und Kohle machen derzeit an die 90 Prozent des japanischen Energiemixes aus. So wird derzeit darüber diskutiert, ob nicht mehrere Atommeiler, für die mittlerweile strengere Auflagen gelten als vor dem Reaktorgau von 2011, schnellstmöglich wieder ans Netz gehen sollten. Außerdem aber macht einmal mehr ein Begriff die Runde, den die meisten im Land noch gut kennen: setsuden.