Dem Gesetzgeber scheint es noch nicht gelungen zu sein, bei zivilen Wirtschaftsprozessen in Zeiten von Covid-19 überall dort, wo Grundsätze in Konflikt zueinander geraten, sachgerechte Regeln auszutarieren.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 4 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Im Rahmen eines Zivilprozesses können Konflikte auf hohem Niveau ausgetragen und verbindlich beigelegt werden. Dabei gelten die tragenden Verfahrensgrundsätze der Mündlichkeit und Öffentlichkeit sowie der Entscheidung innerhalb angemessener Frist nach der unmittelbaren Beweisaufnahme durch den Richter. Während der Covid-19-Krise scheinen diese Grundsätze jedoch nahezu unvereinbar. Die vom Gesetzgeber gewählte Lösung hätte wirtschaftsfreundlicher ausfallen können.
In der aktuellen Covid-19-Situation ist ein Zivilprozess ohne jegliche Gesundheitsgefährdung mit den Grundsätzen der unmittelbaren Beweisaufnahme und dem Anspruch auf Entscheidung innerhalb angemessener Frist nicht in Gleichgewicht zu bringen. Extreme und unbefriedigende Lösungen bestünden darin, überhaupt keine Verhandlungen abzuhalten, auf reine Aktenverfahren umzustellen oder Zivilprozesse unbeirrt wie bisher fortzuführen. Die Kunst des vorausschauenden Gesetzgebers ist es, überall dort, wo Grundsätze in Konflikt zueinander geraten, sachgerechte Regeln auszutarieren. Dies scheint ihm bei zivilen Wirtschaftsprozessen in Zeiten von Covid-19 bisher noch nicht gelungen zu sein.
Mit Anfang Mai erfolgte die Aufhebung des grundsätzlichen Verbots der Abhaltung mündlicher Verhandlungen, das zügig zu Beginn der Pandemie eingeführt worden war. Damit kann das Gericht in zivilen Wirtschaftsprozessen mit Einverständnis der Parteien mündliche Verhandlungen und Anhörungen per Video durchführen und so in- und außerhalb von mündlichen Verhandlungen Beweise aufnehmen und beizuziehende Personen teilnehmen lassen. Selbst wenn grundsätzlich eine mündliche Verhandlung stattfindet, können einzelne Parteien, Zeugen aber auch Sachverständige ihre Beiziehung per Video beantragen, sofern eine erhöhte, Covid-19 bedingte Gesundheitsgefährdung des Antragstellers oder seines Umfeldes feststellbar ist.
Eine Verschleppungdes Verfahrens belastet
Fehlen einer unvertretenen Partei die erforderlichen technischen Kommunikationsmittel, kann sie die Vertagung der Verhandlung verlangen. Daneben können auch vertretene Parteien oder Zeugen die vorläufige Abstandnahme von ihrer Vernehmung ohne die Zustimmung der anderen Parteien beantragen. Auch wenn sich Gerichte damit prinzipiell wieder öffnen, dürfen mündliche Verhandlungen nur in solchen Räumlichkeiten stattfinden, die zur Einhaltung der Schutzmaßnahmen geeignet sind. Angesichts des Mangels an ausreichend großen Verhandlungsräumen verschärft diese Vorgabe den bereits angehäuften Erledigungsrückstand bei den Gerichten immens.
Lässt sich eine Partei auf eine Video-Verhandlung nicht ein und erzwingt sie damit eine Verhandlung in traditioneller mündlicher Form, wird dies infolge der bekannten Raumknappheit nicht selten zu einer Verschleppung des Verfahrens führen. Dies belastet durch die lange Anhängigkeit eines Rechtsstreits beide Prozessparteien. Betroffene Unternehmen haben umso länger bilanzielle Rückstellungen zu bilden und können entsprechend weniger investieren. Sind Parteien überhaupt im Unklaren, ob zwischen ihnen (noch) ein Vertragsverhältnis besteht, kann das besonders lähmend sein.
Die Inkaufnahme dieses Verschleppungspotenzials und der erhöhten Gefahr neuerlicher Infektionen durch mündliche Verhandlungen ist nicht jener Interessenausgleich, den wir selbst, wären wir Gesetzgeber, im Interesse der Wirtschaft vorgenommen hätten. In Hinblick auf die zügige Rechtspflege erscheint es uns sachgerechter, Video-Verhandlungen den klaren Vorrang einzuräumen und die Entscheidung über eine solche Verhandlung in Wirtschaftssachen besser alleine dem richterlichen Ermessen zu überlassen.
Sie sind anderer Meinung?
Diskutieren Sie mit: Online unter www.wienerzeitung.at/recht oder unter recht@wienerzeitung.at