Die Kritiker der Ausweitung polizeilicher Überwachung übersehen offenbar, dass sich eine sehr große Zahl von Bürgern mehr Schutz vor Terror wünscht.
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"Tausende klagen gegen Speicherung von Daten", schrieb die "Wiener Zeitung" einen Tag vor dem Inkrafttreten der Vorratsdatenspeicherung (1. April) auf der Titelseite, und kurz darauf meinte der Politik- und Kommunikationswissenschafter Haimo L. Handl in einem Kommentar: "Durch die instrumentalisierte Terrorhysterie vermochten die Regierungen und die EU-Kommission ein Klima zu erzeugen, in dem die Aufgabe von Grundrechten, die bis anhin als unantastbar galten und als Ausweis der demokratischen Verfasstheit Europas, ein Leichtes war."
Wieder einmal kann man sich da nur über die Verwechslung von Ursache und Wirkung und die Einäugigkeit vieler Zeitgenossen wundern. Sie nehmen nicht wahr, dass nicht Tausende, wohl aber Hundertausende sich einen besseren Schutz vor Terrorakten, die ja immer völlig Unbeteiligte in den Tod reißen, wünschen, dass die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung eine zielstrebigere Vorsorge gegen die - fast ausschließlich via Internet verbreitete - Kinderpornografie und wirksamere Maßnahmen gegen die Verführung der Jugend zu Rauschgift und Drogen verlangt, obwohl man weiß, dass diese Geißeln unserer Zeit überhaupt nur durch das Bestehen internationaler Kommunikationsnetzwerke wirksam werden können. Aber "Experten" und Kommentatoren phantasieren von einem unzumutbaren Eingriff in die Privatsphäre, wenn die Polizei das Recht erhält, bei konkretem Verdacht festzustellen, wer auf welche Websites zugegriffen oder wer mit wem kommuniziert hat . . .
Nach dem Schock des Anschlags von Toulouse hat auch der Chefredakteur der "Wiener Zeitung" in seinem Leitartikel (21. März: "Tödliche Ernte") sofort die französische Regierung dafür verantwortlich gemacht, weil sie mit ihrer Politik rechtsradikale Umtriebe fördern würde. Als sich dann herausstellte, dass der Täter ein islamischer Al-Kaida-Sympathisant war, wurden - zu Recht - massive Vorwürfe geäußert, der bereits polizeibekannte Attentäter und sein Umfeld seien leichtfertigerweise nicht ausreichend überwacht worden.
Dies alles erinnert an die 1970er und 1980er, als die von anarchistischem Gedankengut faszinierte Jugend Anstoß an der öffentlichen Präsenz der Polizei (Stichwort "Überwachungsstaat") genommen hatte und der sozialistische Innenminister daraufhin den Rückzug der Polizisten in die Wachstuben anordnete. Kurze Zeit später beklagte man allerdings lauthals das signifikante Ansteigen der Kleinkriminalität (Handtaschendiebstähle etc.) und machte der Politik massive Vorwürfe, die Polizei unverantwortlicherweise "ausgedünnt" zu haben.
Das Gedächtnis ist kurz, die Blindheit nimmt zu. Die Medien aber sollten, statt die Panik vor einem vermeintlichen Abbau bürgerlicher Freiheiten zu schüren, der Politik Rückendeckung für einen wirksamen Schutz der Menschen vor Verrückten und Skrupellosen geben, und Politikwissenschafter wie Handl könnten ihre Kritik an den ihrer Ansicht nach unwirksamen Maßnahmen wenigstens durch konstruktive Vorschläge für bessere Konzepte glaubhafter machen.