Es hat nicht viel gefehlt, und der vor 450 Jahren geborene Astronom wäre Wirt oder Prediger geworden.
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Es ist eine dunkle, fensterlose Kammer, in der Johannes Kepler am 27. Dezember 1571 geboren wird - im Obergeschoß eines schmalen Hauses, ganz nahe dem Marktplatz von Weil der Stadt. Gleich ums Eck ragt die Stadtkirche St. Peter und Paul auf. Hier wird der Säugling getauft, vermutlich von einem katholischen Pfarrer: Denn unter den 200 Weiler Familien bilden Protestanten wie die Keplers die religiöse Minderheit. Heinrich Kepler und Katharina Guldenmann haben erst am 15. Mai geheiratet. Johannes wird sich später als Siebenmonatskind bezeichnen, um den Verdacht einer vorehelichen Zeugung zu entkräften.
Eltern und Großeltern leben unter einem Dach. Heinrich Kepler hat den Jähzorn seines Vaters Sebald geerbt. Es gibt Handgreiflichkeiten und setzt Schläge für Katharina. Nach wenigen Jahren Ehe wird es Heinrich zu eng. Er zieht 1575 als Söldner in den Krieg. Katharina reist nach Belgien, um ihn zu suchen. Der kleine Johannes überlebt einstweilen die Pocken - mit einer Augenschwäche und einer bleibenden Anfälligkeit für Krankheiten.
Weil liegt zwar in Württemberg, untersteht als freie Reichsstadt aber direkt dem katholischen Kaiser. Als die Eltern zurückkehren, übersiedeln sie ins 12 Kilometer entfernte, protestantisch geprägte Leonberg ("Löwenberg"). 1577 führt Katharina ihren Sohn Johannes dort auf eine Anhöhe, wahrscheinlich den Engelberg: Sie zeigt ihm den hellen Kometen, der gerade für große Aufregung sorgt.
Ein rauer Ton
Im Jahr davor hat Heinrich Kepler ein Fachwerkhaus am Leonberger Marktplatz erstanden. Die reichen Händler möchten einander mit ihren Bauten übertreffen, ihren Wohlstand und Erfolg vorzeigen. Heinrichs kleines Haus zwängt sich dazwischen. Nach einem weiteren Kriegsabenteuer erwirbt er das Bürgerrecht. Der sechsjährige Johannes ist damit Löwenberger Bürgersohn. Die Württemberger Herzöge brauchen evangelische Theologen, Pfarrer, Lehrer und Beamte. Sie setzen, höchst bemerkenswert für die damalige Zeit, auf Schulpflicht und Stipendien. Mädchen wie Buben lernen in der Deutschen Schule Schreiben, Rechnen und Singen. Sie sollen selbst in der Lutherbibel lesen.
Vom Marktplatz aus sind es keine 400 Schritte zum Schulgebäude in der Pfarrstraße. Der kleine Johannes betritt es erstmals 1577. Das Schulwesen liegt in Händen der Kirche. In der Deutschen Schule fungiert der Mesner als Lehrer. Denn dieser ist seit der Reformation "nit mit soviel Arbeit beladen, als im Pabstthum". An die 30 Kinder werden von ihm unterrichtet. Es herrscht ein rauer Ton im Klassenzimmer.
Die Buben können danach die Lateinschule besuchen. Sie ist im gleichen Haus untergebracht. Der Präzeptor und der Collaborator bessern ihr Lehrergehalt auf, indem sie Kostgänger aufnehmen. Diese Schüler wohnen unter dem Dach des Schulgebäudes und ritzen ihre Namen in die Dachbalken. Präzeptor Vitalis Kreidenweiß erkennt das besondere Talent des Johannes. Das Stipendienprogramm fördert begabte Untertanen und eröffnet nun auch ihm die sogenannte "Schwäbische Laufbahn".
Doch 1579 muss Heinrich Kepler das Leonberger Haus verkaufen. Er pachtet das Dorfgasthaus "Zur Sonne" in Ellmendingen. Mutter Katharina ist in der elterlichen Gaststätte groß geworden. Sie weiß, was zu tun ist. Der schwächliche Johannes wird zu bäuerlicher Arbeit herangezogen. Er kann die Lateinschule beenden, braucht allerdings fünf Jahre für die drei Klassen. Dann schafft er das Landexamen und tritt 1584 in die niedere Klosterschule von Adelberg ein. Er trägt eine ärmellose Mönchskutte und darf fortan nur mehr lateinisch sprechen. Wer gegen die strenge Hausordnung verstößt, muss von den eigenen Kameraden angezeigt werden. Aus Furcht vor Bestrafung verrät auch Johannes seine Mitschüler; die revanchieren sich mit ihren Fäusten. Ausschläge, Geschwüre, aufbrechende Wunden und Fieberanfälle plagen ihn zusätzlich.
In der nachfolgenden höheren Klosterschule zu Maulbronn vertieft sich Johannes schon in theologische Fragen. Aber auch dort schlägt wohl noch sein streitsüchtiges Elternhaus durch: In der Rückschau sieht er sich selbst als unbeherrschten und frechen Streber, der andere gern kritisiert und sich zum bissigen Richter aufspielt. Seine Freundschaften währen nur kurz. Als er das Bakkalaureat absolviert, hat er sich etliche Mitschüler zu Feinden gemacht.
Das herzogliche Bildungsprogramm erlaubt es Johannes, in Tübingen zu studieren. Er will Geistlicher werden. Die Universität ist ein Hort der orthodoxen lutherischen Theologie. Hier lehrte einst Philipp Melanchthon, ein wichtiger Mitstreiter Luthers. Gemeinsam mit anderen bezieht "Joannes Keplerus Leomontanus" im September 1589 eine ungeheizte, ehemalige Klosterzelle des Tübinger Stifts. Vermutlich folgt ein zutiefst entwürdigendes und ekelhaftes Aufnahmeritual. Der Tag beginnt um 4 oder 5 Uhr mit dem Singen der Psalmen und klingt 17 Stunden später beim Abendgebet aus. Heimliche Aushorcher und Beobachter zeigen Verfehlungen der Burschen an.
Liebe zu Mathematik
Zum zweijährigen Grundstudium zählen auch Arithmetik, Geometrie und Astronomie. Die Mathematik liebt Johannes ganz besonders. Er befasst sich mit den Übungen des 1558 verstorbenen italienischen Gelehrten Julius Caesar Scaliger. Die widmen sich verschiedenen Phänomenen der Natur und deren Erklärung. Auch der von Kepler viel gerühmte Magister Michael Mästlin lehrt das klassische Weltbild, in dem sich der ganze Kosmos mitsamt den Fixsternen, der Sonne und den Planeten um die Erde dreht - und das jeden Tag aufs Neue. Die Erde ruht noch völlig unbewegt in der Mitte des Kosmos.
Mästlin erwähnt in seinen Vorlesungen aber auch den 1543 publizierten Gegenentwurf des Nikolaus Kopernikus - obwohl dessen Modell einst von Luther und Melanchthon scharf angegriffen wurde. Kopernikus ließ den Kosmos ruhen und versetzte stattdessen die Erde in tägliche Rotation. Außerdem ließ er Erde, Merkur, Venus, Mars, Jupiter und Saturn auf Kreisbahnen um die Sonne ziehen. Johannes ist von der "Schönheit" des sonnenzentrierten Modells entzückt. In den wissenschaftlichen Streitgesprächen, den Disputationen, verteidigt er die Außenseiterposition. Er kann nicht ahnen, dass ausgerechnet er diesem Weltenbau später ein sicheres Fundament schenken wird - indem er die kopernikanischen Bahnkreise durch Ellipsen ersetzt und den Planetenlauf präzise berechenbar macht.
1591 hat Johannes den Magistertitel erworben, als zweitbester von einem guten Dutzend Kandidaten. Die Universität lobt seine "vortreffliche und herrliche Begabung", setzt große Hoffnungen in ihn. Nun kann er endlich das dreijährige Hauptstudium der Theologie in Angriff nehmen. Um die innere Einheit zu fördern und sich von anderen abzugrenzen, pochen die Lutheraner seit 1577 auf die sogenannte "Konkordienformel". Sie schreibt bestimmte Lehrmeinungen als verbindlich fest. Wer ein Amt in Kirche oder Staat anstrebt, muss sie unterzeichnen. Doch Johannes meldet Vorbehalte an. Für Luther ist Christus beim Abendmahl überall gleichzeitig auch mit Leib und Blut zugegen, für Calvin nicht. Hier zieht Kepler die calvinistische Position vor. Aus Sicht seiner Glaubensbrüder grenzt er sich nicht entschieden genug von den Calvinisten ab. Das macht ihn auf Lebenszeit verdächtig. Selbst Matthias Hafenreffer, Theologieprofessor und späterer Kanzler der Universität, rügt die religiösen Ansichten seines Freundes; er wird diese schließlich ganz offen als "absurde und blasphemische Hirngespinste" tadeln.
Anfang 1584 trennen Johannes nur noch wenige Monate vom Abschluss des Theologiestudiums. Da sucht die evangelische Stiftsschule in Graz einen Lehrer, der die Söhne des Adels in Mathematik unterrichtet. Tübingen wählt ausgerechnet Kepler. Der Familienrat wird einberufen. Johannes willigt dem Weg in die Fremde zu. Er will aber die Zusage, später heimkehren zu dürfen - um letztlich doch noch ein Kirchenamt ausüben oder einen Lehrstuhl innehaben zu können.
Kein Übertritt
Doch dazu kommt es nie. Denn in Tübingen hält man Kepler für einen "verschlagenen Calvinisten", der an der Universität bloß "viel Unruh erwecken" und der Jugend "calvinistisch Gift eingießen" würde. Als ihn ein Glaubensbruder später vom Abendmahl ausschließt, wird ein Stuttgarter Probst den gebrandmarkten Kepler sogar "Schwindelhirnlin" nennen. Der reagiert verbittert. Die Kirche hätte ihm alles geraubt, was wichtig sei, resümiert er: Heimat, Freunde und das Leben dort.
Wären Keplers Eltern seinerzeit in der kaiserlichen Reichsstadt Weil geblieben, hätte Johannes nie vom stark religiös motivierten Bildungsprogramm Württembergs profitiert. Er wäre dann vielleicht Händler oder Wirt geworden. Hätte sich Tübingen toleranter gezeigt, wäre er in den Kirchendienst getreten. Auch in diesem Fall hätte ihn die Geschichte rasch vergessen.
Es ist die Zwietracht der Konfessionen, die dem Johannes Kepler Türen öffnet - sie aber auch zuschlägt. Die rekatholisierte Steiermark weist den Lutheraner aus. Das treibt ihn zum Astronomen Tycho Brahe, der ihn wiederum mit Kaiser Rudolf II. in Kontakt bringt. Kepler wird kaiserlicher Mathematiker. Ein Übertritt zum katholischen Glauben würde sein Fortkommen im Zeitalter der Gegenreformation fraglos befördern: Womöglich wäre dann selbst eine Mathematik-Professur denkbar. Doch so sehr Kepler Toleranz gegenüber Andersgläubigen übt und sogar Freundschaften mit diesen pflegt, so ernst nimmt er den eigenen Glauben. Heucheln habe er nicht gelernt, hält er einmal fest.
Der vor 450 Jahren in einer katholischen Kirche getaufte Protestant stirbt 1630 während des Dreißigjährigen Kriegs. Seine letzten Tage verbringt der heute so gerühmte Astronom verarmt und todkrank bei Freunden in Regensburg. Diese Stadt ist damals noch eine protestantische Enklave im katholischen Bayern.
Christian Pinter, geboren 1959 in Wien, schreibt im "extra" seit 1991 über Astronomie und Raumfahrt. Internet: www.himmelszelt.at