Kann ein Dienstnehmer, der seinem Vorgesetzten unberechtigterweise sexuelle Belästigung vorwirft, gekündigt oder entlassen werden?
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Der Oberste Gerichtshof (OGH) hat sich jüngst mit der Frage beschäftigt, ob die nicht erwiesene Behauptung einer sexuellen Belästigung durch eine Dienstnehmerin den Dienstgeber zur Kündigung oder Entlassung berechtigt. Im gegenständlichen Fall behauptete eine Dienstnehmerin, dass sie ihr Vorgesetzter wiederholt durch sexuelle Anspielungen, Zuzwinkern, Nachpfeifen und "lüsternen Blicken" sexuell belästigt habe. Die Dienstnehmerin hat dem Dienstgeber diese behaupteten Vorfälle der sexuellen Belästigung gemeldet. Aufgrund dessen wurde gegen den Vorgesetzten ein Disziplinarverfahren eingeleitet, das aber eingestellt wurde. Auch das Verfahren vor der Wiener Gleichbehandlungskommission endete mit der Feststellung, dass keine sexuelle Belästigung vorliege.
Der Dienstgeber ging aufgrund dieser Ergebnisse des Disziplinarverfahrens und der Gleichbehandlungskommission offenkundig davon aus, dass die Dienstnehmerin bei der Behauptung, Opfer einer sexuellen Belästigung geworden zu sein, gelogen habe und entschloss sich zur Kündigung. Die Dienstnehmerin hat die Kündigung daraufhin bei Gericht angefochten. Auch im Rahmen des Gerichtsverfahrens überzeugte die Dienstnehmerin offensichtlich das Gericht nicht davon, dass sie von ihrem Vorgesetzten sexuell belästigt und unsittlich berührt wurde. Das Gericht traf vielmehr die negative Feststellung: "Es ist nicht feststellbar, dass die Klägerin aus Anlass ihrer Vorsprache am xxx von xxx sexuell belästigt, unsittlich berührt oder an den Brüsten abgegriffen wurde."
Kernfrage der gegenständlichen OGH-Entscheidung war daher, ob der Vorwurf einer sexuellen Belästigung, der sich im Rahmen eines Gerichtsverfahrens nicht bestätigt hat, den Dienstgeber berechtigt, die Dienstnehmerin wegen "wahrheitswidriger und ehrenverletzender" Behauptungen gegenüber ihrem Vorgesetzten zu kündigen (oder zu entlassen).
Obwohl nach der bisherigen Judikatur zur Entlassung bei erheblichen Ehrverletzungen bzw. grober Ehrenbeleidigung der Dienstnehmer den Beweis erbringen muss, dass die ehrverletzende Behauptung wahr ist, kam der OGH hier zu einem anderen Ergebnis. Nach den einschlägigen europäischen und nationalen Rechtsvorschriften darf niemand aufgrund einer Beschwerde wegen sexueller Belästigung benachteiligt bzw. sein Dienstverhältnis beendet werden. Dies würde das Risiko für die betroffenen Dienstnehmer, derartige Behauptungen vorzubringen und Abhilfe zu suchen, erheblich erschweren. Vor dem faktischen Hintergrund, dass sich sexuelle Belästigungen in den meisten Fällen wohl nicht vor Zeugen ereignen, ist dieser Analyse zuzustimmen. Diese Judikatur bedeutet aber auch, dass selbst dann, wenn sich in einem Gerichtsverfahren der Vorwurf der sexuellen Belästigung nicht bestätigt, dem betroffenen Dienstnehmer faktisch Kündigungsschutz zukommt. Dies, da jede Beendigung nach dem Gleichbehandlungsgesetz angefochten werden kann, wenn diese "wegen der nicht offenbar unberechtigten Geltendmachung von Ansprüchen nach diesem Gesetz" erfolgt (§ 12 Abs 7 GlBG). Die Beschwerde über eine sexuelle Belästigung stellt eine solche Geltendmachung dar. Hätte das Gericht festgestellt, dass die Dienstnehmerin nicht sexuell belästigt wurde, wäre die Kündigung bzw. sogar eine Entlassung (unter Wahrung der Unverzüglichkeit) aber berechtigt.