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Vorzeigemodell Skandinavien

Von Sylvie Maier

Europaarchiv

Mangel an Arbeitskräften könnte bald Wachstum gefährden. | Hohe steuerliche Belastung von Bevölkerung akzeptiert. | Wien. Allerorten blicken Politiker bewundernd auf Schweden, Norwegen und Dänemark. Trotz rauer Zeiten verzeichnen die nordeuropäischen Länder eine boomende Wirtschaft und geringe Arbeitslosigkeit, und das bei einem engmaschig gestrickten Sozialnetz. Doch erst einschneidende Reformen haben nach der Krise vor zehn Jahren zum Status Quo geführt.


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Nach der Durststrecke Anfang der 90er-Jahre, als die Arbeitslosenzahlen explodierten und viele schon das Ende des Wohlfahrtsstaates prophezeiten, haben sich die nordeuropäischen Staaten konsequent gesundsaniert. Reformen wurden von den bis heute starken Gewerkschaften mitgetragen und von der Gesellschaft akzeptiert.

Hohe Beschäftigung

Dennoch zählen die steuerfinanzierten Sozialleistungen nach wie vor zu den höchsten Europas. Ermöglicht wird das durch eine Beschäftigungsquote von im Schnitt knapp 75 Prozent: In Dänemark etwa arbeiten 75 Prozent der Frauen und 80 Prozent der Männer (zum Vergleich: In Österreich sind es 62 Prozent der Frauen bzw. 75 Prozent der Männer). Die hohe Frauenerwerbsquote ist einer flächendeckenden, leistbaren Kinderbetreuung und dem gesetzlichen Anspruch auf einen Betreuungsplatz zu verdanken.

Familienfreundliche Arbeitszeiten und partnerschaftliche Aufteilung der Familienarbeit sorgen zudem für steigende Geburtenzahlen, und gerade unter den dänischen Besserverdienern kommt die Drei- und Vierkindfamilie wieder in Mode.

Die für unsere Begriffe schmerzhaft hohen Konsum- und Einkommenssteuern werden ohne Murren gezahlt, denn die Skandinavier haben das Solidaritätsprinzip verinnerlicht und wissen den Wohlfahrtsstaat mit Annehmlichkeiten wie Studiengeld (Beihilfen und Darlehen) für alle, universelle Absicherung, gratis Sprachunterricht für Ausländer oder eine tolle Bücherei-Infrastruktur, zur schätzen. Kurzum: Sie lieben Vater Staat, der sich bis hin zur Erziehung der Kinder um wirklich alles kümmert Wer das System ausnützt, erntet Unverständnis und schiefe Blicke.

Arbeitskräftemangel

"Leider nein", heißt es derzeit oft in dänischen Betrieben. Aufträge müssen abgelehnt werden, weil dank faktischer Vollbeschäftigung Mitarbeiter fehlen. Der so entgangene Umsatz wird sich heuer laut dänischem Industrieverband DI auf 20 Milliarden Kronen belaufen.

Während in Dänemark vor allem die Exportwirtschaft hinter dem Boom steht, ist in Schweden ein anziehender privater Konsum Motor des Wirtschaftsaufschwungs. Auch in Norwegen sind Arbeitskräfte Mangelware, vor allem im Gesundheitssektor, der Bau- und Erdölbranche.

Der abgeschottete Arbeitsmarkt könne den Dänen jedoch bald zum Verhängnis werden: vom Flaschenhals ist die Rede; Wirtschaftsvertreter fordern schon länger eine Öffnung um der Nachfrage Herr zu werden.

Auch die OECD warnte bereits davor, dass bei einem anhaltenden Arbeitskräftemangel das Wachstum von 3,1 Prozent (2005) bis 2007 auf 1,6 Prozent sinken und positive Effekte des Booms zunichte machen könnte. Allen drei Ländern ist eine sehr aktive Arbeitsmarktpolitik gemein. Während es jedoch in Schweden und Norwegen unter Umständen unmöglich sein kann, einen Mitarbeiter zu kündigen, weil dafür ein Grund vorliegen muss, hat sich das dänische System der "Flexicurity" - ein eher liberaler Arbeitsmarkt (vergleichbar Österreich mit ein- bis sechsmonatigen Kündigungsfristen) bei gleichzeitiger hoher sozialer Absicherung im Falle des Jobverlusts - besonders bewährt. Dies führte mit im März gemessenen 4,3 Prozent (Quelle: Eurostat) zur niedrigsten Arbeitslosenrate seit Jahren.

Engagement gefordert

In Nordeuropa werden neben den Rechten besonders die Pflichten der Arbeitssuchenden hervorgestrichen: Engagement wird eingefordert. Gemeinsam mit dem Sachbearbeiter des staatlichen Arbeitsamts wird ein maßgeschneiderter, detaillierter Handlungsplan samt eventuell sinnvollen Weiterbildungs- oder Umschulungsmaßnahmen erarbeitet und von beiden unterschrieben. Vorrangiges Ziel vor Transferleistungen ist die Beschaffung einer Arbeit.

Jedem dänischen Arbeitssuchenden werden altersabhängig nach einer gewissen Zeit der Arbeitslosigkeit (bei unter 30-jährigen nach sechs Monaten) eine Reihe von verpflichtenden "Aktivierungs"-Angeboten unterbreitet, die bis zu Praktika oder unbezahlter Arbeit reichen. Im Sinne der Gleichheit erhalten Minderverdiener mit 80 Prozent des Letztbezuges eine relativ hohe, prinzipiell aber gedeckelte, Arbeitslosenunterstützung.

Der trotz Wirtschaftsboom geringen Beschäftigungsquote von 45 Prozent unter nicht-westlichen Einwanderern, die es am dänischen Arbeitsmarkt schwer haben, hat Premierminister Anders Fogh Rasmussen den Kampf angesagt. Ob die Unternehmen seinem Appell, mehr Immigranten einzustellen nachkommen, wird sich zeigen. Aber auch der hohe Steuerdruck auf Arbeit ist manchmal kontraproduktiv. "Arbeit muss sich wieder lohnen", meinte kürzlich etwa Susanne Larsen, CEO bei SAS Danmark.

Eltern haben es gut

Leistungen für die Dauer des Karenzurlaubs gibt es in Dänemark für maximal 52 Wochen, davon sind zwei ausschließlich für den Vater reserviert. Der Rest kann beliebig aufgeteilt werden. Die Höhe des Geldes richtet sich danach, wie lange und wie viel man in die Arbeitslosenkasse eingezahlt hat, maximal aber circa 415 Euro pro Woche.

Die hohen Lebenskosten zwingen die Mütter in der Regel jedoch schon weit vor dem ersten Geburtstag des Sprösslings zurück an den Arbeitsplatz. Ähnlich wie in Österreich will sich nur ein Bruchteil aller Familien einen zusätzlichen Verdienstentgang leisten und den Vater die Kinderbetreuung übernehmen lassen.

Großzügiger sind da die Nachbarn: In Schweden erhalten Eltern für insgesamt 57 Wochen 80 Prozent des Letztgehalts, maximal 600 Euro pro Woche. Das Jahr wird gern zur Gänze in Anspruch genommen, detto der Vätermonat. Viele schwedische Dienstgeber erstatten ihren karenzierten Mitarbeiterinnen zum Teil sogar die Differenz zwischen Kindergeld und Gehalt.

In Norwegen haben Eltern ein Jahr lang Anspruch auf 80 Prozent des Letztgehalts bzw. auf 100 Prozent für die Dauer von 42 Wochen. Detail am Rande: Bei weitem mehr Schwedinnen und Norwegerinnen als österreichische Mütter arbeiten Teilzeit (siehe Grafik).

Hohe Selbstbehalte

Wer annimmt, Gesundheitsleistungen seien in den nordeuropäischen Wohlfahrtsländern wie bei uns in Österreich gratis, der irrt gewaltig: In Schweden und Norwegen gibt es einen jährlichen Selbstbehalt für Arztbesuche, Behandlungen und Medikamente (Norwegen: 200 Euro).

Zahnarztkosten oder Brillen müssen in Norwegen - mit Ausnahme von Kindern bis zum 18. Lebensjahr, behinderten und pflegebedürftigen Menschen - in voller Höhe bezahlt werden, in Schweden schießt der Staat zu.

Für stationäre Behandlungen gibt es in Norwegen Wartelisten, der so gewonnene Überblick soll zu einer optimalen Auslastung der Krankenhäuser führen. Patienten mit schwerem Leiden dürfen per Gesetz höchstens drei Monate warten, akute Fällen werden sofort behandelt.

In Dänemark ist der Zahnarzt für Erwachsene ebenfalls eine unangenehm teure Angelegenheit, unter Umständen hat man aber Anspruch auf einen Kostenzuschuss. Selbstbehalt für Arztbesuche und dergleichen gibt es in Dänemark nicht, wenn man wie der Großteil der Bevölkerung über das "Hausarztmodell" versichert ist. Auch dort sind die Wartezeiten für Operationen mitunter solang, dass dänische Patienten in private oder ausländische Krankenhäuser geschickt werden müssen.

Niedrige Volkspension

Prinzipiell ruht die Pensionssicherung in Skandinavien auf zwei bis drei Säulen. Die Basis bildet eine (relativ niedrige) Volkspension. Seit der Pensionsreform im Jahr 1999 kann man in Schweden bereits ab 61 in Rente gehen, nach oben hin gibt es keine Altersgrenze. Je später der Pensionsantritt, desto mehr Geld gibt es.

Viele Dänen zahlen neben oder anstatt der Zusatzpension in eine private Pensionskasse ein. Die Skandinavier (übrigens beide Geschlechter gleichermaßen) sind es gewohnt, bis ins hohe Alter zu arbeiten. Besonders augenfällig ist das in Schweden: Dort liegt die Erwerbsquote der zwischen 55- und 64-jährigen sogar bei 69,5 Prozent.