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Vranitzky · "Helfen statt diskutieren"

Von Ines Scholz

Politik

Wien · Altbundeskanzler Franz Vranitzky sieht in einem starken politischen Engagement "aller 15 Mitglieder der Europäischen Union" die einzige Möglichkeit zur Beendigung des Kosovo- | Konfliktes. Eine persönliche Beurteilung des NATO-Krieges wollte er nicht vornehmen. Der ehemalige US-Verteidigungsminister Robert McNamara, der von Vranitzky nach Wien eingeladen wurde, äußerte | große Bedenken gegen die von der UNO nicht gedeckten NATO-Angriffe auf Jugoslawien.


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Darüber zu diskutieren, ob der Einsatz der NATO richtig war, sei hypotethisch, "die Frage wurde längst von der Realität eingeholt", meinte Vranitzky am Mittwoch bei einer gemeinsamen

Pressekonferenz im Presseclub Concordia in Wien. Nun gehe es darum, das Leid der aus dem Kosovo Vertriebenen möglichst "rasch und sichtbar" zu lindern. Europa sei dazu aufgerufen, seinem Ruf als

"wirtschaftlicher Riese und politischer Zwerg" zu trotzen. Dabei soll EU-Führung nach Auffassung Vranitzkys insbesondere auch den vom Flüchtlingsdrama betroffenen Regionen organisatorische

Unterstützung bei der Bewältigung des Massenansturms gewähren.

Insgesamt werde es viel Fingerspitzengefühl erfordern, um diese schicksalhafte Situation zu bewältigen, ohne daß für lange Zeit tiefe Wunden bei den Menschen zurückbleiben. Es sei

verständlich, daß die internationale Staatengemeinschaft angesichts der "größten Vertreibung seit 1945" keine Patentlösung aus der Tasche ziehen könne, aber "jeder nur mögliche Versuch", eine

politische Lösung zu finden, ist zu suchen".

Vranitzky befürwortete zugleich, daß die NATO auf das jüngste einseitige Waffenstillstandsangebot des serbischen Präsidenten Slobodan Milosevic nicht einging. Die Staatengemeinschaft habe lange auf

dessen Zusagen vertraut, das Vertrauen sei jedoch "in höchstem Maße" mißbraucht worden.

Als Zukunftsrezept schlug der Altkanzler eine stärkere Integration der Region in die EU vor. "Je schneller" die diesbezüglichen Debatten in der EU "abgeschlossen seien, desto besser". Auch

Österreich, deren kulturellen und wirtschaftlichen Verbindungswege nach Südosteuropa durch die Krise versperrt seien "wie eine verstopfte Arterie", müsse daher an einer raschen politischen

Lösung interessiert sein.

McNamara, der von 1961 bis 1968 als US-Verteidigungsminister mit dem Vietnamkrieg befaßt war, äußerte schwerwiegende Bedenken gegen die NATO-Angriffe, da diese von der internationalen

Staatengemeinschaft im Rahmen der UNO nicht gedeckt seien und auch kein Verteidigungsfall laut NATO-Pakt darstelle. Andererseits müsse das Flüchtlingsproblem gelöst nun werden. Der Westen könne nicht

akzeptieren, daß 500.000 Menschen aus ihrem Land vertrieben würden, sagte McNamara bei der Pressekonferenz. Europa müsse künftig stärker seine Pflichten zur Sicherung des Friedens in der Welt

erfüllen. Dieser Aufgabe müsse sich auch Österreich als Nicht-NATO-Mitglied stellen.

Ausdrücklich wandte sich der ehemalige Pentagonchef gegen die Rolle der Vereinigten Staaten als "Weltpolizist" und plädierte für eine umfassende UNO-Reform, bei der das Vetorecht durch qualifizierte

Mehrheiten ersetzt wird.