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Wackelt Mehrheit für Janukowitsch?

Von Michael Schmölzer und Gerhard Lechner

Politik

Gefahr einer gewaltsamen Eskalation der Lage ist nicht gebannt.


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Wien/München/Kiew. Es ist still im Auditorium der Münchner Sicherheitskonferenz, denn Vitali Klitschko berichtet von seiner "ukrainischen Vision". Der Oppositionschef ist aufgewühlt, er beherrscht sich nur mit Mühe. Die letzten Jahre seien verlorene Jahre für die Ukraine gewesen, sagt er. Alle Reformbemühungen seien gescheitert, die Korruption blühe. Präsident Wiktor Janukowitsch habe versprochen, dass die Ukraine sich der EU annähern werde - doch nun liege alles in Scherben. Aber es gebe Hoffnung, das Regime des Präsidenten wanke; die Demonstranten würden Demokratie, Verfassungsreformen und Reformen in der Justiz und der kommunalen Selbstverwaltung fordern, man wolle vorgezogene Wahlen als legitime Lösung der Krise.

Der ukrainische Außenminister Leonid Koschara, der direkt neben Klitschko am Podium sitzt, wirk weit gefasster: Man habe ja schon alle Forderungen der Opposition erfüllt, der Präsident der Ukraine habe in der Vergangenheit sehr wohl tiefgreifende Reformen in Gang gebracht. Auch sei es beängstigend, dass die Demonstranten teilweise Symbole aus der Nazi-Zeit verwendeten.

Jetzt durchbricht Klitschko das strenge Protokoll und verteilte Bildbroschüren auf dem Podium und unter dem Publikum. Darauf zu sehen sind verletzte Demonstranten und polizeiliche Gewalt gegen Protestierende.

Zumindest was die inhaftierten Oppositionellen betrifft, kommen sich Opposition und Regierung näher. Die ukrainische Führung versprach gestern, bis zum Freitag 100 Demonstranten aus der Haft zu entlassen. Im Gegenzug wollen die Regierungsgegner die besetzte Stadtverwaltung in Kiew räumen und ihre Barrikaden auf der Gruschewskogo-Straße zum Regierungsviertel aufgeben. Die Oppositionellen beharrten bisher auf eine bedingungslose Freilassung der Inhaftierten.

Politische Wende?

Die Opposition geht unterdessen weiterhin aufs Ganze und will sich nicht an einer Regierung unter dem aktuellen Präsidenten Wiktor Janukowitsch beteiligen. Der Präsident hat zuvor Ex-Außenminister Jazenjuk angeboten, Premier zu werden. Der lehnte umgehend ab. Von Seiten der Opposition heißt es, dass man bisher nur "ein Modell" diskutiere: nämlich "dass die Janukowitsch-Gegner die ganze Verantwortung übernehmen" "Das bedeutet", so Jazenjuk, dass wir (...) das Land aus dem Loch ziehen, in das es die Regierung und der Präsident gezogen haben."

Für den Politologen Kyryl Savin von der Heinrich-Böll-Stiftung in Kiew hat die derzeitige Situation in der Ukraine nichts mit Entspannung zu tun. Es handle sich vielmehr um eine "Ruhe vor dem Sturm". Bei der heute Dienstag stattfindenden Sitzung des Parlaments sei es im Bereich des Möglichen, dass Janukowitsch die Mehrheit verliere, so Savin gegenüber der "Wiener Zeitung". Die Opposition behaupte zumindest, dass sie eine Mehrheit habe und eine neue Koalition bilden könne, weiß der Politologe.

Demnach könnten direkt gewählte Abgeordnete der Partei der Regionen, die von der Fraktionsspitze weniger kontrolliert würden, und jene Abgeordneten, die von den Oligarchen Rinat Achmetov und Dmytro Firtasch abhängig sind, sich überlegen, mit der Opposition eine neue Koalition zu bilden. Als erster Schritt sei dann die Neuwahl des Parlamentspräsidenten geplant. Ein zweiter Schritt wäre dann die Verfassungsreform. Die Opposition wolle, so Savin, zurück zur Verfassung des Jahres 2004, als die Orange Revolution ihren kurzlebigen Sieg feierte.

Dafür wäre aber eine Zwei-Drittel-Mehrheit notwendig, was derzeit nicht realistisch sei. Trotzdem wolle man Janukowitsch "irgendwie überzeugen", so Savin. Später solle eine neue Regierung gebildet werden. Jazenjuk oder der Unternehmer Petro Poroschenko könnten neuer Premier werden. Und für Klitschko könnte dann das Präsidialamt vorgesehen sein. Doch das alles stehe "auf sehr wackligen Füßen", betont der Forscher. Es ist in der Tat davon auszugehen, dass Janukowitsch massiven Druck auf "seine" Parlamentarier ausüben wird.

Savin will nicht ausschließen, dass das ukrainische Regime den Ausnahmezustand verhängt und den Maidan gewaltsam räumen lässt. Er bezweifelt aber, dass Janukowitsch dazu überhaupt noch genug Polizeikräfte habe. Allerdings sei auf Seite der Regierung eine Militarisierung feststellbar. Die Radikalisierung auf beiden Seiten - es sind viele Waffen im Umlauf - könnte den Weg zum Bürgerkrieg ebnen. Der Forscher hält trotzdem vorgezogenen Neuwahlen Ende des Jahres als wahrscheinlichstes Zukunfts-Szenario.

"Moral nicht gebrochen"

Für Entsetzen sorgen in Europa Bilder, die den Oppositions-Aktivisten Dmytro Bulatow zeigen, der schwer verletzt in einem Dorf außerhalb von Kiew aufgetaucht war. Er weist schwere Verletzungsspuren im Gesicht auf. Die ukrainischen Behörden werfen ihm die Organisation gewaltsamer Proteste vor. Am Sonntag entschied ein ukrainisches Gericht schließlich, dass Bulatow das Land verlassen darf, um sich medizinisch behandeln zu lassen. Vom Krankenbett in Litauen aus kündigte Bulatow an, er wolle seinen "Kampf fortsetzen". "Ich bin körperlich zerstört worden, aber meine Moral ist nicht gebrochen". Er schildert im ukrainischen Privat-TV, wie Unbekannte ihn verschleppten und tagelang schwer folterten. Er sei "gekreuzigt" worden, sagte der 35-Jährige. Das
ukrainische Innenministerium schließt nicht aus, dass er die Entführung inszeniert habe.

Ruf nach Bürgerwehr

Ungarns Außenminister János Martonyi, ebenfalls Teilnehmer der Münchner Sicherheitskonferenz, warnt ebenfalls vor dem Ausbruch eines Bürgerkrieges. Dieser Angst wurde zuletzt weiter Nahrung gegeben - durch Klitschko selbst. "Bildet Bürgerwehren in jedem Hof, in jedem Bezirk, in jedem Haus", rief der Oppositionelle zurück auf dem Maidan in Kiew den Demonstranten zu. Auch der frühere Innenminister Juri Luzenko, ein Getreuer von Ex-Regierungschefin Julia Timoschenko, fordert die Demonstranten zur Bildung von Bürgerwehren im ganzen Land auf. Diese seien "die beste Absicherung gegen ein Blutbad". Ex-Außenminister Arseni Jazenjuk forderte die Armee auf, nicht in den Machtkampf einzugreifen.

Zuletzt waren überall die Befürchtungen groß, dass die ukrainischen Sicherheitskräfte die Protestbewegung niederschlagen - mit der Rückendeckung Moskaus. Russlands Außenminister Sergej Lawrow ließ in München jedenfalls durchblicken, dass man durchaus für die Beschränkung der Demonstrationsfreiheit sei, dass der Freiheit des Einzelnen ein starker, ordnender Staat gegenüberstehen müsse.