Vor 250 Jahren wurde der Schriftsteller Johann Gottfried Seume geboren, der mit seinem "Spaziergang nach Syrakus" (und seinem Buch darüber) in die Geschichte eingegangen ist.
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Manche Menschen wurden dank einer einzigen Tat oder mit einem einzigen Werk berühmt. Herostrates als antiker Brandstifter, Brutus durch die Ermordung Cäsars, Max Bruch mit seinem Violinkonzert Nr. 1, Munch mit dem Gemälde "Der Schrei", Eiffel mit der Errichtung eines eisernen Turms in Paris, Seume mit seinem Spaziergang nach Syrakus.
Seume, vor 250 Jahren in Sachsen geboren, wächst in eine hervorragende Epoche der deutschen Kulturgeschichte hinein. Der Zeitgeist ist der Aufklärung auf wissenschaftlichem und gesellschaftlichem Gebiet zugetan, der Ruf nach Freiheit und Menschenrechten erhebt sich und erschüttert die politische Ordnung, die Kunst entfaltet sich in grandioser Manier, strebt - von alten Vorbildern inspiriert - zu jungen Zielen und neuer Vollendung.
Zwei Stilrichtungen, wirkungsvoll und einflussreich, als Klassik und Romantik bezeichnet, beherrschen und bestimmen die Entwicklung der deutschen Literatur. Auch die Entwicklung des Schriftstellers Seume, der eigentlich gar keiner werden wollte, der diesen Beruf bloß als einen zweiter Wahl empfand. Im Jahre 1796 schrieb er an einen Freund: "Das Schriftstellerwesen behagt mir aber im Grunde sehr wenig: und gebe der Himmel, daß ich es nie zu meiner Resource des Unterhalts brauchen darf."
Ein spartanischer Geist
Der Hauptwunsch Seumes, sein größter Lebenstraum nämlich war es, Soldat zu sein; als Offizier dem Vaterland zu dienen. Dagegen sprach allerdings seine unadelige Herkunft, welche seine untadelige militärische Haltung - der Arzt und Maler Carl Gustav Carus lobte Seumes "scharfe altsoldatische Persönlichkeit" - nicht wettzumachen vermochte.
Aussehen und Charakter dieser Persönlichkeit waren so beschaffen: Seume war von kleiner Statur, das heißt 1,50 bis 1,55 Meter groß, mager, hager, hatte schwarzbraunes Haar, blaue Augen und war kurzsichtig. Er galt als "störrischer, unbiegsamer Kopf", machte "einen finsteren, verschlossenen Eindruck", gab sich nicht selten als trockener, "einsylbiger Gesellschafter", verstand es jedoch auch, "gut, einfach und verständlich mit den Menschen zu reden".
Über seine "eigene Individualität" bekannte Seume 1798 dem damals populären Dichter Gleim (mit dem er freundschaftlich verbunden war): "Ich trinke keinen Wein, keinen Kaffeh, keinen Liqueur, rauche keinen Tabak, und schnupfe keinen, eße die einfachsten Speisen, und bin nie krank gewesen . . . meine Panazee (= Allheilmittel) ist Diät und Bewegung." Ein spartanischer Wanderer, dessen Leben mitunter recht abenteuerlich verlaufen ist.
Johann Gottfried Seume kommt am 29. Jänner 1763 in Poserna zur Welt, einem in der Leipziger Tiefebene gelegenen Ort. Sein Vater ist Böttcher, also Fassbinder, seine Mutter stammt aus einem wohlhabenden Bauerngeschlecht. Der nach strengen moralischen Grundsätzen erzogene Knabe erweist sich schon bald als ein aufgeweckter Dorfschüler mit Talent zu eigenem Denken. Ein Graf von Hohenthal befördert Seumes weitere Ausbildung in Borna und Leipzig. Mit siebzehn erhält er ein Stipendium von fünf Talern pro Monat (zum Vergleich: Goethe bekam als Student fünfmal so viel) und wird zum Theologiestudium gedrängt.
Doch die Theologie behagt ihm nicht. Einerseits widerstrebt ihm der vorgeschriebene christliche Dogmatismus: "Ich begriff, daß ich als ehrlicher Mann nicht auf dem Wege fortwandeln konnte . . . Ich verehrte Moses, Christum, aber nach meiner Weise und nicht nach dem System." Andererseits zieht’s ihn ins Freie, in die Ferne, denn er spürt (wie er später schrieb) nun deutlich: "Nur das Wirkliche fing an mich zu interessieren."
Seume hegt Fluchtpläne; im Sommer 1781 macht er sich heimlich auf den Weg nach Frankreich, wo er eine Militärausbildung absolvieren will. Es kommt jedoch anders und der Flüchtling nur bis Eisenach, wo er hessischen Soldatenwerbern in die Hände fällt. Der Landgraf von Hessen-Kassel hatte seit 1776 einen Soldatenvermietungsvertrag mit dem englischen König, der militärische Unterstützung für den Kampf gegen die abtrünnigen Kolonien in Nordamerika benötigte.
Mehr erwartungsfroh denn verzweifelt wird Soldat Seume in die Neue Welt expediert. "Über den Ozean zu schwimmen war für einen jungen Kerl einladend genug", schrieb er später, wiewohl wir "in den englischen Transportschiffen . . . gedrückt, geschichtet und gepökelt wie die Heringe" wurden.
Als Unteroffizier in Halifax (Nova Scotia) stationiert, führt Seume ein eher unspektakuläres Leben, zumal da der Unabhängigkeitskrieg bereits zu Ende ist und die indianischen Urbewohner des Landes sich als ungefährlich erweisen: "Die Wilden benahmen sich . . . immer anständig". Seume verabscheut die Sklaverei; er ist ein Verfechter der Menschenrechte, hält Freiheit und Gerechtigkeit für die höchsten Lebenswerte; in politischer Hinsicht ein konservativer Idealist, ist ihm die Französische Revolution nebst ihren Folgen nicht geheuer, eine rechtschaffene Monarchie weitaus lieber.
"Recht griesgrämig"
Nach der Rückkehr aus Amerika (Herbst 1783) desertiert Seume, wird aber kurz danach schon wieder von offenbar tüchtigen Werbern verpflichtet: diesmal zum preußischen Militärdienst für vier Jahre. Glücklich ist er dort nicht, was aus zwei missglückten Fluchtversuchen zu schließen ist. 1789 beginnt Seume in Leipzig mit dem Studium der Jurisprudenz, das er 1792 abschließt. "Ich bin jetzt recht griesgrämig", seufzt er, weil sich ihm in Deutschland weder eine akademische noch eine militärische Karriere eröffnet. Da erhält er das Angebot, als Offizier ins russische Militär einzutreten: er wird Adjutant des Generals Igelström, der nach der Teilung Polens als Kommandant der Besatzungsarmee in Warschau stationiert ist.
1797 seines Postens enthoben, wird Seume Korrektor, Lektor, schließlich Oberaufseher über sämtliche Druckereiarbeiten im Verlagshaus Göschen in Grimma. Er erfährt die Enttäuschung einer unglücklichen Liebesbeziehung mit der 19-jährigen Wilhelmine Röder, er verfasst prosaische Aufsätze und Gedichte, von denen etliche 1801 publiziert werden. Sie sind, wie’s in einer Literaturgeschichte heißt, "herbe Lyrik", darin es "von Härten des Ausdrucks und des Verses wimmelt".
Der "Spaziergang"
Kurzum, Seume, dem das Schriftstellerwesen ja ohnehin nicht wirklich gefällt, noch weniger freilich das Lektorieren von Ifflands oder Wielands Werken, nicht zuletzt deshalb, weil ihn die ständige sitzende Tätigkeit zermürbt - Seume ist lustlos und deprimiert. Da beschließt er, eine große Wanderung zu machen. Nach Syrakus. Endlich! "Der Gang ist", bekennt er, seit langem "eine meiner Lieblingsträumereyen gewesen".
Am 6. Dezember 1801 bricht Seume von Grimma auf, ausgestattet mit einem trefflichen Tornister (Inhalt: Kleidung, Pantoffel, Flickbeutel, Bürste, zwei Notizbücher, rund ein Dutzend Werke griechischer und lateinischer Autoren), mit einem Paar solider Stiefel, einem Knotenstock, Geld (zum Teil aus Vorschüssen), Pässen, Empfehlungsschreiben, guten Ratschlägen sowie ernsten Warnungen vor Räubern und Wölfen.
Sein Reisemotto lautet: "Nicht ohne Gefahr", seine Reiseabsicht ist es, nicht nur landschaftliche Schönheiten zu entdecken, sondern auch (modern gesagt) die soziologischen Strukturen der durchwanderten Welt zu erkennen. Syrakus ist das Ziel; der Weg dorthin der Zweck.
Einige exemplarische Zitate aus dem 1803 erschienenen Reisebericht "Spaziergang nach Syrakus".
Als Seume am zweiten Weihnachtsfeiertag in Wien ankam, wurde er an der Stadtgrenze von Amts wegen gründlich visitiert: "Ich armer Teufel wurde hier in bester Form für einen Hebräer angesehen, der wohl Juwelen oder Brabanter Spitzen einpaschen könnte. Über die Physiognomie!" Nicht minder zeitlos die Bemerkung: "Von dem Wiener Theaterwesen kann ich Dir nicht viel Erbauliches sagen." Einmal in die Stadt eingelassen, wurde Seume "überall mit Bonhommie und Gefälligkeit behandelt", nur auf der böhmischen Kanzlei hatte er einen "echt böotischen Auftritt". "Währ üß Ähr?", fragte ihn der Präsident "in dem dicksten Wiener Bratwurstdialekt", und "Wu will Ähr hin?" - "Steht im Passe: nach Italien." - "Italien üß gruhß." - "Vor der Hand nach Venedig, und sodann weiter." - "Wu wüll Ähr weiter hünn?" - "Vorzüglich nach Sizilien."
Weiterwandernd machte Seume die Erfahrung: "Der Semmering ist kein Maulwurfshügel; es hatte . . . entsetzlich geschneit, der Schnee ging mir bis hoch an die Waden."
Graz gefiel ihm besser als Wien, in Venedig bedrückte ihn die grassierende Armut und Bettelei. In Bologna ergötzte er sich an dem "beliebten Spiel Tombola - eine Art Lotterie aus dem Stegreif". Unterwegs bestieg der wackere Wandersmann bisweilen einen Mauleselsrücken oder eine Kutsche, in Neapel schiffte er sich nach Palermo ein, und am 1. April 1802 war er endlich in Syrakus angelangt. "Jetzt sitze ich hier und lese den Theokrit", notierte er glücklich.
Hingegen musste er betrübt feststellen: "Syrakus kommt immer mehr und mehr in Verfall"; und ein ihm begegnender patriotischer Einwohner schaute "über das große traurige Feld seiner Vaterstadt, das kaum noch Trümmer war" und sagte: "‚Das waren wir!‘ und mit einem Blick hinunter auf das kleine Häufchen Häuser: ‚Das sind wir!‘"
Ende August 1802 kehrt Seume nach Leipzig zurück. In den nächsten Jahren unternimmt er weitere Wanderungen, meist in deutschen Landen; eine größere Reise führt ihn nach Polen, Russland und Skandinavien, worüber er in dem Band "Mein Sommer 1805" berichtet. Er verliebt sich noch einmal, wiederum unglücklich, er schreibt Aphorismen und das Trauerspiel "Miltiades". 1808 erkrankt Seume an der Gicht und einem Nierenleiden, 1809 beginnt er mit der Abfassung seiner Autobiographie ("Mein Leben"). Am 13. Juni 1810 stirbt "der berühmte Wanderer" (Goethe) in Teplitz, wo er auch begraben liegt.
Postskriptum
Was das Verhältnis der Nachwelt zu Seume betrifft, ist dies zu ergänzen: Außer der Erinnerung an seinen Spaziergang nach Syrakus hat auch ein geflügeltes Wort bis heute überlebt. Ein Wort, das der Gedichtstrophe entsprungen ist:
Wo man singet, lass’ Dich ruhig nieder,Ohne Furcht, was man im Lande glaubt;Wo man singet, wird kein Mensch beraubt:Bösewichter haben keine Lieder.David Axmann wurde 1947 geboren und lebt als Publizist und Buchautor in Wien und im Burgenland. Im Langen Müller Verlag, München, ist 2008 seine viel beachtete Friedrich Torberg-Biographie erschienen.