Zum Hauptinhalt springen

Waffen können auch Frieden schaffen

Von Hubert Feichtlbauer

Politik

Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 20 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Neutralität - eine Endlosgeschichte in Österreich, und das nicht zuletzt deshalb, weil die Debatte unehrlich geführt wird. Unter den Neutralitätsverteidigern gibt es unzählige Pazifisten, die jede kriegerische Handlung und auch jede Vorbereitung darauf verurteilen und sich grundsätzlich jedem zukünftigen Aggressor ohne Gewaltwiderstand ausliefern würden. Das ist eine edle jesuanische Grundhaltung, die die meisten Zeitgenossen wohl als erhoffenswertes Endziel gesellschaftlicher Entwicklung, aber nicht als reale Gegenwartsoption betrachten werden. Trotzdem: Hut ab vor ihren Verfechtern - aber mit Neutralität hat das nichts zu tun. Neutralitätspolitik kostet Geld, viel Geld, und zwar auch für militärische Abwehrmaßnahmen - weit mehr Geld, als Österreich heute für seine Sicherheitspolitik ausgibt. Jeder Budgetvergleich mit der Schweiz oder Schweden liefert dafür den Beweis.

Bleiben wir also bei der Sache, wenn von Neutralität die Rede ist: ein internationales Versprechen der militärischen Selbstverteidigung ohne Anspruch auf Bündnishilfe. Nun stimmt zweifellos, dass derzeit ein Aggressionsakt gegen das Territorium von Österreich so unwahrscheinlich wie noch nie zuvor in der Geschichte ist. Das ist der spektakuläre Nutzen der Zugehörigkeit zur Europäischen Union: Ihre Mitglieder werden gegen einander nie mehr Krieg führen - nicht, weil sie plötzlich einen höheren ethischen Standard im Vergleich zu Nichtmitgliedern erworben hätten, sondern weil Länder mit so hoher wirtschaftlicher Verflechtung keinen Krieg gegen einander mehr führen können. Frieden durch Wirtschaftsunion: eine einzigartige historische Leistung, die jenen, die in der Wirtschaft Konflikt- und Kriegspotential schon aus Prinzip erblicken, zu einer etwas nachdenklicheren Sprache veranlassen sollten! Dieser Nutzen hat freilich einen Preis.

Der besteht in der Teilnahme an der gemeinsamen Verteidigung des gemeinsamen Errungenen. Konkret: Bündnis- und Beistandspflicht! Wenn die Europäische Union zu einer großen Friedenszone geworden ist, muss jedes Mitglied zur Verteidigung europäischer Außengrenzen bereit sein. Weitgehend ist dafür längst gesorgt, und auch bündnisfreie EU-Mitglieder haben sich damit abgefunden. So gesehen, ist der Hinweis auf "neue Inhalte" der Neutralität schon heute eine beschönigende Irreführung. Auch Österreich ist längst nicht mehr so neutral, wie es 1955 geworden ist. Aus der moralischen eine verbindliche Beistandspflicht zu machen, steht uns noch bevor. "Trittbrettfahrer" ist heute nicht mehr, wer Österreich von anderen Mächten verteidigt sehen möchte, sondern wer die Verteidigung Europas anderen überlassen und sich selbst abseits halten möchte.

Bleibt die Frage, ob denn Europa militärisch im herkömmlichen Sinn bedroht ist. Derzeit ist dies sicher nicht der Fall. Aber warum nicht? Weil mögliche Aggressoren sehr genau um den Stand der militärischen Rüstung Europas und um dessen Bündnis mit den USA wissen. Wenn ganz Europa sich für Abrüstung entschiede, wäre die Einladung zu militärischer Besetzung von Grenzgebieten auf der Stelle geschaffen. Oder kann sich jemand ernsthaft vorstellen, ein wehrlos gewordenes Europa böte einer bis auf die Zähne bewaffneten außereuropäischen Welt keine Einladung zu militärische Eroberung? Ein mächtiger Usurpator, wie Hitler einer war, sitzt heute nicht im Herzen Europas. Aber in mehreren Teilen der Welt ist er sehr wohl vorstellbar oder schon vorhanden, womöglich mit Kernwaffen ausgerüstet. Soll man einem solchen ganz Europa als wehrlose Beute auf dem Silbertablett anbieten?

Krieg ist Menschenwerk, Frieden daher auch. Dass Krieg verhindert werden kann, ist eine Erkenntnis unserer Zeit, die moralisch nicht hoch genug bewertet werden kann. Aber zu einer brauchbaren Weltmoral gehört auch ein Mindestmaß an Realitätssinn. Der aber verlangt die Erkenntnis, dass es bis zu einer krieglosen Welt noch vieler Entwicklungsschritte bedarf. Es hat Jahrhunderte gedauert, bis Familien-, Stammes- und Stadtfehden zu einer Sache von Polizei und Justiz reduziert werden konnten. Solches kann und wird wohl auch auf National- und Weltebene noch gelingen - aber nicht von heute auf morgen. Bis es so weit ist, muss eine verantwortungsvolle Staatsführung auch eine verantwortungsvolle Sicherheitspolitik führen. Dazu gehört auch die Bereitschaft zu bewaffneter Verteidigung nach strengen völkerrechtlichen Regeln, die jeden Gewalteinsatz von einem UNO-Mandat abhängig und jede Kriegsteilnahme ohne freie Entscheidung einer demokratisch gewählten Regierung unmöglich machen.

Darüber muss man mit reifen Mitbürgern und Mitbürgerinnen offen, sachlich und ruhig diskutieren können. Die Erfahrung des Kalten Krieges hat gezeigt, dass auch teuerste Waffen ihren Zweck schon durch bloße Existenz und ohne tatsächliche Verwendung erreichen können. Dass dabei Rüstungsindustrielle verdienen (sicher zu viel!), lässt sich genau so wenig vermeiden wie eine Bereicherung der Pharmaindustrie durch die Medizin. Deshalb wird man trotzdem nicht alle Medikamente abschaffen. Eine Sprache, die auf Pauschalverdächtigungen und die Unterstellung gekaufter Hörigkeiten verzichtet, könnte der Qualität einer ehrlichen Neutralitätsdebatte sehr dienlich sein.