PKK-Chef Öcalan will Konflikt beenden, Anschläge in Istanbul und Ankara.
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Istanbul. Heute will Kurdenführer Abdullah Öcalan seine PKK zum Waffenstillstand aufrufen - damit soll ein Schlussstrich unter 28 Jahre Krieg mit 40.000 Toten, Massenvertreibungen und zahllose Terroranschläge gezogen werden. Doch die Begleitmusik des Ereignisses, das von Öcalan selbst als "historisch" bezeichnet wird, ist wenig feierlich - sie besteht in Detonationslärm. In den vergangenen zwei Tagen wurden Büros der türkischen Regierung und der regierenden AKP das Ziel von Sprengstoffanschlägen. In Istanbul explodierte eine Bombe in der Nähe eines Behördenbüros, in Ankara wurden Handgranaten auf einen Anbau des Justizministeriums geworfen. Die Parteizentrale der AKP, in der auch Premier Recep Tayyip Erdogan sein Büro hat, wurde von einer Panzerfaust getroffen. Es entstand Sachschaden, der Premier selbst war zu dem Zeitpunkt schon auf dem Weg nach Dänemark.
Zu den Anschlägen bekannt hat sich die linksextremistische "Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front" DHKP-C. Die marxistische Gruppe war mit der PKK verbündet und will die Zerschlagung des türkischen Staates mit allen Mitteln. Mit der Ausrufung des Waffenstillstandes wendet sich die PKK von diesem Ziel ab, was die DHKP-C schwächt.
Öcalan sitzt auf der schwer gesicherten Gefängnisinsel Imrali eine lebenslange Haftstrafe ab und beobachtet die Ereignisse via Fernsehen - erstmals, denn zuvor war Öcalan von Informationen abgeschnitten. Über einen Mittelsmann, den Vorsitzenden der legalen Kurdenpartei BDP, ließ Öcalan wissen, dass "kein einziges Menschenleben" mehr verloren gehen dürfe. Seit Dezember verhandelt die schnauzbärtige Identifikationsfigur mit dem türkischen Geheimdienst über Ende des Konflikts; jetzt hat man sich zumindest weit angenähert. Öcalan garantiert einen endgültigen Gewaltverzicht der PKK, wenn es im Gegenzug Garantien für politische und kulturelle Rechte gibt. So soll die türkische Verfassung umgeschrieben und der "türkische Bürger" ethnisch neutral gefasst waren. Der Gebrauch der Muttersprache und des kurdischen Alphabets soll überall und immer legal sein. Die PKK streicht im Gegenzug die Schaffung eines "freien Kurdistans" aus ihrem Forderungskatalog.
Die BDP will im Zuge des Friedensangebots unbedingt die Freilassung Öcalans erreichen, doch das geht der Regierung in Ankara eindeutig zu weit: Ein solcher Schritt würde radikale Nationalisten wie die "Grauen Wölfe", auf den Plan rufen, die dann ihrerseits zu terroristischen Mitteln greifen könnten.
"Den See austrocknen"
Die türkischen Kurden, die vor allem den Südosten des Landes bewohnen, fühlen sich seit Jahrzehnten durch eine rigorose Assimilationspolitik Ankaras unterdrückt. 1978 wurde als Reaktion die PKK von Öcalan und 24 anderen in einem Dorf bei Diyarbakir gegründet. Ziel war der nationale Befreiungskampf. 1984 attackierten PKK-Einheiten türkische Armee- und Polizeieinrichtungen. Ankara verstärkte seine militärischen Kräfte, 1990 kämpften 200.000 Soldaten gegen 2500 PKK-Rebellen, die sich in die schwer zugänglichen Kandil-Berge zurückzogen. Öcalan rief 1993 einen einseitigen Waffenstillstand aus, der hielt aber nicht einmal ein Monat. In den folgenden Jahren eskalierten die Kämpfe, die 90er Jahre sind die blutigsten in dem Konflikt. Die türkische Armee spricht von knapp 27.000 getöteten PKK-Kämpfern, mehr als 5000 gefallenen Armeesoldaten und 4500 ermordeten Zivilisten. Unter dem Motto "den See austrocknen, um an die Fische zu kommen" ließ Ankara tausende kurdische Dörfer und Siedlungen zwangsräumen. Mindestens eine Million Menschen sollen von den Behörden umgesiedelt worden sein. An der Seite der Armee waren paramilitärische Organisationen wie die türkische Hisbollah an zahllosen Verbrechen beteiligt. Auch die PKK schonte Zivilisten nicht. 1999 wurde Öcalan schließlich von türkischen Agenten in Kenia festgenommen und in die Türkei gebracht. Er rief die PKK auf, die Kämpfe einzustellen und sich zurückzuziehen. Die Opferzahlen gingen phasenweise zurück. Bis zuletzt startete die türkische Armee im Osten Großoffensiven, an denen tausende Soldaten beteiligt waren.